Das Institut für incohärente Cinematographie (IOIC) widmet sich in der aktuellen Saison dem Mittelalter im Stummfilm. Zahlreich sind im frühen Kino die Filme, die ihre Zuschauer durch Zeit und Geschichte streifen lassen, um sie dann um die Erfahrung ihrer eigenen Vergangenheit bereichert wieder in die Gegenwart zu entlassen. Diese Geschichtsbilder von damals werden, ganz im Sinne des IOIC, durch aussergewöhnliche zeitgenössische Live-Vertonungen mit der heutigen Gegenwart in Beziehung gesetzt. Nach dem edlen Helden Robin Hood im Oktoberprogramm geht es nun um Hexen und germanische Mythen, um Häxan und Die Nibelungen.
Häxan ist ein hybrides Wesen. Sowohl dokumentarisch als auch mit dramatischen Szenen erzählt Benjamin Christensens Film die Geschichte der Hexerei vom Mittelalter bis zur Neuzeit und ist zugleich eine Studie darüber, wie Aberglauben und das Missverstehen von Krankheiten zur Hysterie der Hexenverfolgungen führen konnten. Andrerseits zeigt der Film aber auch, inwiefern das «moderne» Krankheitsbild der Hysterie ebendieser Tradition entstammt. Das Mittelalter lebt also auch im Zeitalter Sigmund Freuds fort. Aufgrund der bildlichen Darstellung von Folter, Nacktheit und Perversion wurde der Film in vielen Ländern gekürzt, zensiert oder gar ganz verboten. Heute fesselt er in erster Linie wegen der expressionistischen Inszenierung und der düster-burlesken Gruselvisionen.
Seit den sechziger Jahren erfährt Häxan immer wieder neue Vertonungen, insbesondere von Musikern aus den Bereichen Jazz und experimentelle Musik. Vertont wird der Film diesmal vom internationalen Trio Riot. Das energiegeladene Spiel der drei jungen Musiker aus Dänemark, England und der Schweiz erinnert an die britische Punk-Szene der achtziger Jahre, wobei ihr Sound und Kompositionsstil irgendwo im Spannungsfeld zwischen Ornette Coleman und Neuer Musik angesiedelt sind. Alles in allem also die notwendigen Ingredienzen, um der visuellen Orgie auch akustisch gerecht zu werden.
Neben der technischen Herausforderung, die Welt der Mythen für das 20. Jahrhundert wieder lebendig werden zu lassen, hat Fritz Lang als die wichtigste Aufgabe bei der Verfilmung der Nibelungen eine klare Strukturierung des epischen Stoffes genannt. Vier vollkommen in sich abgeschlossene, einander geradezu feindliche Welten galt es seiner Meinung nach streng zu unterscheiden und jede in sich selbst zu einem Gipfel zu führen: die adlig-überfeinerte Welt des Königshofes in Worms, die mythisch-geheimnisvolle Welt des jungen Siegfried, die nordisch-eisige Welt der Brunhild sowie die asiatische Welt Etzels und der Hunnen. Durch diese vier Welten sollten die gleichen Menschen auf vielfach sich kreuzenden Wegen schreiten. Mittels der bereits im mittelalterlichen Epos angelegten Verschränkung verschiedener Zeiten, der archaischen Völkerwanderungszeit und des höfischen Mittelalters, wird nicht zuletzt die Frage nach dem Fortleben des Archaischen im Aktuellen, der Mythen in der Moderne aufgeworfen.
Für die neue Vertonung spannen vier Musiker zusammen, die fern der Heimat zueinandergefunden haben. Der Elektroniker und Pianist Dadaglobal und der Saxophonist und Gitarrist Steve Buchanan sind erstmals an der Art Basel Hong Kong 2013 gemeinsam aufgetreten und haben seither diverse Stummfilme vertont. Die Zusammenarbeit zwischen der Sängerin und Elektronikerin Iokoi und dem Elektroniker und Produzenten Bit-Tuner wiederum nahm ihren Anfang anlässlich der IOIC China Tour 2012. Jeder von ihnen wird jeweils den Lead in einer der behandelten Welten übernehmen. Und wie Fritz Lang in Die Nibelungen eine neue Form für das alte Epos gefunden hat, haben sich die vier Musiker vorgenommen, die Welt des frühen 20. Jahrhunderts für das frühe 21. Jahrhundert auferstehen zu lassen.
Der erste Teil von Fritz Langs Verfilmung der Nibelungensage handelt von Siegfried, Sohn des Königs Sigmund, der sich nach Worms aufmacht zur schönen Kriemhild. Auf seinem Weg erschlägt er einen Drachen und findet den verwunschenen Schatz der Nibelungen. Kriemhilds Bruder Gunther stimmt der Heirat von Kriemhild und Siegfried zu, unter der Bedingung, dass Siegfried ihm hilft Brünhild – Königin von Island – zur Frau zu gewinnen.
«Fritz Langs Die Nibelungen ist ein Meisterwerk des Stummfilms, den bedeutendsten Werken der 1920er Jahre ebenbürtig. In seiner Klasse sind wohl nur Gance’Napoleon, DeMilles Cleopatra, oder sein eigener, drei Jahre jüngerer Film Metropolis. Aber während letzterer (…) die Voraussetzungen einer industrialisierten Dystopie aufzeigt, ist Die Nibelungen unverfroren teutonisch, zu gleichen Teilen ein idyllischer Tagtraum und ein höllisches, von Dämonen bewohntes Wüstenland. Seine Bilder weben ein gefährliches Gewirr von Schönheit und Qual, mit feinen Tönen der Abscheu, welche dieses menschliche Drama durch Langs Vorliebe für meisterlich übertriebenes Schauspiel prägen.» (Spectacletheater.com)
Vertonung: Dadaglobal, Steve Buchanan, Iokoi & Bit-Tuner
Dadaglobal (Elektronik, Piano)
Steve Buchanan (Altsaxophon, Gitarre, Elektronik)
Iokoi (Stimme, Elektronik)
Bit-Tuner (Elektronik)
https://soundcloud.com/dadaglobal
http://stevebuchanan.net/
http://iokoi.net/
http://bit-tuner.net/
Drehbuch: Thea von Harbou, Fritz Lang
Kamera: Carl Hoffmann, Günther Rittau
Schnitt: Paul Falkenberg
Mit: Paul Richter (Siegfried), Margarete Schön (Kriemhild), Hanna Ralph (Brunhild), Theodor Loos (König Gunther), Hans Adalbert von Schlettow (Hagen Tronje), Bernhard Goetzke (Volker von Alzey), Erwin Biswanger (Giselher), Georg John (Schmied Mime/Nibelung Alberich), Gertrud Arnold (Königin Ute), Hans Carl Müller (Gernot)
150 Min., tinted, Digital HD, dt. Zw'titel