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Shakespeare im Kino

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Shakespeares Stücke scheinen auf das Kino und seine Möglichkeiten geradezu gewartet zu haben. Die höchst unterschiedlichen Umsetzungen, die das Filmpodium im Rahmen der Festspiele Zürich 2015 präsentiert, zeigen, wie authentisch und gleichzeitig universell übertragbar Shakespeares Figuren und wie attraktiv seine Stories um Macht, Geld und Liebe heute noch sind. «Shakespeare im Kino» beginnt 1899 mit einer Sterbeszene: Der viktorianische Bühnenstar Herbert Beerbohm Tree chargiert sich als King John zwischen gemalter historistischer Kulisse und moderner Kamera selber fast zu Tode, als der Filmpionier William K. Dickson versucht, sein Schaustellergeschäft mit Hochkultur zu nobilitieren. Was die frühe Filmtechnik hier dokumentiert, ist ironischerweise nur eine überlebte Bühnenkultur, die den populären Antiklassizisten William Shakespeare (1564–1616) in ein kanonisches Korsett aus Guckkastenbühne, Opernhaftigkeit und Nationalliteratur gezwängt hatte. Wie sehr das elisabethanische Theaterwunder in Geist, Ökonomie und Ästhetik auf das Kino vorausweist, schien kurz darauf in der Méliès-Traditionslinie der Kinematografie auf: als der Filmtrick mit unerreichter Wahr- und Wahnhaftigkeit den «Tempest»-Bühnenzauber und den «Macbeth»-Geisterspuk schwerelos auf die Leinwand übertrug. Das Theater des Renaissance-Menschen Shakespeare und das frühe, als Bastardmuse gescholtene Kino setzten beide auf einen spektakulären Mix aus Alt und Neu, high and low, tragischem Pathos und comic relief. Mit attraktiven Stories, schnellen Remakes und billigen Sequels bediente solches Multimedia-Entertainment willig die Schaulust seines grossstädtischen Massenpublikums.

«Alle Welt schauspielert»
Wenn sich William Shakespeares monumentales Werk auf eine einzige Programmzeile verdichten lässt, dann ist es «Totus mundus agit histrionem». Dieses Motto soll am halboffenen Dachhimmel des Globe Theatre der «King's Men»-Truppe geprangt haben, deren Mitglied und Teilhaber Shakespeare war. Hier setzte der Aufsteiger aus der Provinz seine Welt-Schau als Rollenspiel leibhaftiger Menschen vor bis zu 2000 Zuschauern so handlungsreich wie ökonomisch in Szene: Denn die Handlungen des Dramatikers, Dramaturgen und Performers sind immer auch Verhandlungen – zunächst zwischen den Protagonisten auf den (Schau-)Spielbrettern der Bühne, wo, wie im Schach, der Stellenwert einer Figur wichtiger ist als ihr absoluter Rang. Es sind aber auch nie abgeschlossene Statusdebatten zwischen den prunkvoll verkleideten Schauspielern und ihrem ständisch breit gefächerten Publikum, das am Bühnenrand beim Buhlen um Liebe, Geld und die Protektion der Mächtigen oft auch direkt adressiert wurde. Diesen Wendungsreichtum zwischen Action und Affekten im elisabethanischen Theater bringt John Maddens Shakespeare in Love (1998) gerade deshalb so mitreissend auf den Punkt, weil sich der romantische Pastiche-Film um die erfundene Entstehung von «Romeo and Juliet» an den Stoffen der Shakespeare-Folklore so skrupellos bedient, wie dies der Barde bei seinen antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Meistern tat.

Dichter und Verdichter
Für Geld, Macht und Liebe als Handlungstreiber in Showbusiness und im realen Leben gilt das Gleiche wie für alle Transaktionen dazwischen: Nichts ist absolut. Alles bleibt dem Wandel unterworfen und muss stets neu ausgehandelt werden. Was Shakespeare, dieses Genie von singulärer Kreativität, erschuf, ist das grosse Theater des Stellenwerts von Sein und Schein. Kein Herrscher bleibt immer souverän, kein Vermögen ein beständiger Schatz, keine Liebe ohne Liebesmüh. Diese abgründig humane, frühmoderne Einsicht erhebt die historischen Gestalten der Königsdramen zu unseren Zeitgenossinnen und -genossen und enthebt erfundene Figuren wie Hamlet, den Kaufmann von Venedig oder Romeo und Julia ihrer blutleeren Fiktionalität. Solche universelle Übertragbarkeit quer durch Genres, Epochen und Nationen macht Shakespeares Geschöpfe zu authentischen Filmfiguren – trotz ihrer wortgewaltigen Rhetorik voll manieristischer Bildhaftigkeit, subtilster Ironie und deftigsten Pointen. Shakespeares 37 Dramen mit ihren 1000 Rollen bieten einen Über-Schauplatz für ein vielperspektivisches Spektakel zwischen Sinnlichkeit und Gedanklichkeit, Imagination und Illusion. So kühl das Auge des Verdichters den Wechsel der Machtkonstellationen zwischen seinen Figuren registriert, so psychologisch tief ist der Blick des Dichters: Es ist ein Werk voller poetischer Empathie, doch frei von jeglichem Moralisieren, idealer Stoff, aus dem noch heute Kinoträume sind. Dies auch, weil sich das elisabethanische Theater geradezu fürstlich um die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung oder die Standesregeln foutierte: So spielt etwa Shakespeares «Antony and Cleopatra» auf drei Kontinenten, überspannt zehn Jahre und tragikomische Parallelhandlungen von freskohafter Vielfigurigkeit. Die Inszenierung schneller Wechsel von Schauplatz, Tageszeit und der Affektlage von Helden wie Publikum ist eminent proto-kinematografisch, ebenso die Perspektivenvielfalt zwischen Schlachtfeldtotale und intimster Einfühlung einer «inneren» Grossaufnahme.

Was heisst schon anachronistisch?
All diese stofflichen, musikalischen und dramaturgischen Qualitäten von Shakespeares Proto-Kino beflügeln auch den Shakespeare-Film selber – frei aller Anachronismus-Ängste. Ein Botenbericht verwandelt sich unangestrengt in ein iPad-Movie (Almereydas Cymbeline), und die gefürchteten Rapiere der adligen Veroneser Raufbolde mutieren mühelos zu Pistolen exilkubanischer Jungmafia-Gangs in Baz Luhrmanns grandiosem William Shakespeare’s Romeo + Juliet. In zwölf Verszeilen ist es um Capulets kostbarstes Investitionsgut auf dem Heiratsmarkt geschehen, als sich Tochter Juliet an seinem Maskenball in Romeo, Spross des Erzfeindes Montague, verliebt: Wie dieser coup de foudre quer durch Masken und Konvention in einem buchstäblichen Augenblick einschlägt, ist Kino pur avant la lettre. Umso reizvoller der Versionenvergleich dieser Schlüsselszene, bei der sich die verstohlenen, doch bald schon begehrenden Blicke der «star-crossed lovers» erstmals kreuzen: Bei George Cukor im Maskenspiel, bei Franco Zeffirelli als subjektive Gegenschüsse im taumelnden Reigen von Tänzern und Kamera, bei Luhrmann durch ein freistehendes Aquarium, in der Neo-Bollywood-Version als neckisches Wasserpistolenduell während des Holi-Farbenfests und schliesslich in Bruno Barretos brasilianischer Fussballfankultur-Satire durch das Ophtalmoskop, mit dem Dr. Romeu tief ins schöne, durch Funkenflug versehrte Auge seiner Patientin aus dem verfeindeten Verein blickt.

Übertragung als Prinzip
Dass sich jede Epoche, ja jede Generation «ihren» Shakespeare von neuem (er-)finden konnte, ist der Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit der deutschen Stürmer und Dränger und der Romantiker geschuldet. Heute leisten diesen Transfer die vielsprachigen, transkulturellen Shakespeare-Filme, in deren Geschehen wir uns gleichsam doppelt hineinprojizieren können. Vielleicht taugen sie deshalb gerade im Zeitalter des Digital Cinema als Prüfstein für die Emanzipationsgeschichte des Films als selbständige Kunstform jenseits aller postmoderner Dekonstruktion: In Shakespeares Figuren steckt tiefe Lebensklugheit, doch niemals Autobiografie. Sie sind durchaus Geschöpfe einer immensen Belesenheit, doch frei von Elitedünkel. Und sie strotzen vor Innerweltlichkeit, weisen aber immer über sich hinaus.
Der ferne Mann aus Stratford ist sein Werk, das uns noch immer nahe geht – und dieses ist das wohl universellste dichterische Werk der Mediengeschichte: global konvertierbares Humanitär-Kapital.
Hansmartin Siegrist

Hansmartin Siegrist ist AV-Produzent und Film- und Medienwissenschaftler in Basel. Er unterrichtet an der Universität Basel und an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Informationen zum Gesamtprogramm unter www.festspiele-zuerich.ch