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Premiere: Corn Island

Kleines grosses Welttheater

Dem georgischen Regisseur George Ovashvili, dessen Kinderporträt The Other Bank das Filmpodium 2011 vorgestellt hat, ist mit Corn Island ein vielschichtiges, mehrdeutiges Kunstwerk gelungen: Eine kleine vergängliche Flussinsel und ihre Bewohner werden zur universellen Parabel des menschlichen Daseins. Das Werk hat bereits zahlreiche Festivalpreise gewonnen und ist im Rennen um den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film.
Schauplatz der Geschichte ist der Fluss Enguri im Westen Georgiens, der zum Teil die natürliche Grenze zwischen Georgien und der Republik Abchasien bildet, deren Status bis heute umstritten ist – doch weist die geografisch prekäre Situation auf jede andere vergleichbar gelegene Konfliktzone. Der weite Atem, mit dem Ovashvili die Bilder inszeniert, übernimmt den natürlichen Rhythmus der Elemente, des Reifens der Pflanzen, der Verwandlungen der menschlichen Körper. Für sein grosses Welttheater von Geburt und Tod, Werden und Vergehen beansprucht Corn Island nur wenige Quadratmeter Erde.
Im Frühling bilden sich im Bett des Enguri kleine Inseln: fruchtbares Schwemmland, das von Bauern gerne bebaut wird. Ein alter Abchase nimmt eine der so entstandenen Inseln in Besitz, pflügt die Erde um, zimmert sich eine Hütte, bald hilft ihm seine Enkelin, übernimmt die einfacheren Aufgaben. Der Mais gedeiht schnell, die Nahrung für den Winter scheint gesichert – doch gleichzeitig wachsen auch die Bedrohungen. Das Flusswasser steigt wieder an. Und das Urbarmachen eines Landstücks, dessen territoriale Zugehörigkeit uneindeutig ist, vollzieht sich unter den argwöhnischen Augen der Soldaten beider Seiten, die immer wieder wie aus dem Nichts auftauchen und auf Motorbooten in bewaffneter Kampfmontur das fragile Bauernleben bedrohen. Die Soldaten entdecken auch die Schönheit des heranreifenden Mädchens; einer von ihnen, ein Georgier, ein «Feind», der ein Auge auf die junge Frau geworfen hat, strandet eines Nachts schwer verletzt auf der Insel.

Von Frühling zu Frühling
Der Abchase versorgt den Verwundeten, bringt damit sich und seine Enkelin, die sich zu dem Unbekannten hingezogen fühlt, in grosse Gefahr. Aber noch unberechenbarer ist die Gewalt der Natur, die zerstörerische Kraft des Flusses. Geredet wird in diesem Film wenig; erzählt wird fast ausschliesslich in Bildern – und mit den Geräuschen der Elemente und Lebewesen: Der Fluss gurgelt, wispert, droht, die Vögel locken und warnen, durch die Klänge von Schaufel, Axt und Hammer des Bauern peitscht immer öfter ein Schuss. Eine reichhaltige Geräuschpartitur, die nur selten durch Musik gesteigert wird. Ein Frühling, ein Sommer, ein Herbst, Pflügen, Säen, Ernten; das ist viel Zeit, die Ovashvili auf geheimnisvoll-magische Weise langsam und schnell zugleich erzählt: in geruhsamen Kamerafahrten, die sich alle Zeit der Welt zu nehmen scheinen, immer wieder die Beobachtungsposition wechselnd – aber gleichzeitig in narrativen Sprüngen, die das Leben im Zeitraffer vorbeiziehen lassen. Wenn am Ende der Frühling wiederkehrt, bleibt vom Früheren nur noch eine rätselhafte Spur.
Bettina Spoerri

Bettina Spoerri lebt und arbeitet als freie Kulturvermittlerin in Zürich.