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Stummfilmfestival 2017

Welche Bilder, welche Klänge!

Der Jahresauftakt zur Filmgeschichtsreihe «Das erste Jahrhundert des Films» – diesmal mit Werken von 1917 und 1927 – weitet sich erneut zum nunmehr traditionellen Stummfilmfestival. Es bietet auch in seiner 14. Ausgabe mit kanonisierten Klassikern und überraschenden Wiederentdeckungen einen lebendigen Einblick in das breite Spektrum des Filmschaffens ohne synchronen Ton. Dessen «Fehlen» wird durch musikalische Live-Begleitungen mehr als kompensiert; es gibt Anlass zu Events mit hiesigen und internationalen Spitzenvertretern der Stummfilmmusik.
Kaum hatte sich der Filmjournalist Jay Weissberg im Herbst 2015 über seine Ernennung zum Direktor der Giornate del cinema muto gefreut, kam die kalte Dusche: Der langjährige Stummfilmfan sah sich damit konfrontiert, dass das traditionsreiche und renommierte Festival im norditalienischen Pordenone von der internationalen Filmszene als «Nischenfilm»-Anlass etikettiert wurde – getreu dem filmwirtschaftlichen Motto: Nur der neuste Film zählt. In Weissberg haben die Verfechter des Stummfilms einen energischen neuen Mitstreiter gewonnen. Filme ohne integrierte Tonspur, das kann man nicht oft genug unterstreichen, sind vollwertige Filme, deren bildstarke Narration vielem überlegen ist, was später entstand, und sie umfassen das volle Spektrum des Filmschaffens, von kurz bis lang, von heiter bis tragisch, von trivialen bis zu tiefgründigen Stoffen und von banaler Machart bis zu hoher Kunst.
2017 stellt das Zürcher Stummfilmfestival – wie gewohnt zugleich Jahresauftakt zur permanenten Filmgeschichtsreihe «Das erste Jahrhundert des Films» – die Jahre 1917 und 1927 ins Zentrum, u. a. mit Klassikern wie Seventh Heaven von Frank Borzage und Wings von William A. Wellman. Da 1927 auch das Jahr des bahnbrechenden Erfolgs des ersten (Beinahe-)Tonfilms The Jazz Singer ist, lag es nahe, auch diesen Übergang zu thematisieren. Neben dem legendären, ursprünglich mit Schallplatten vertonten Film von Alan Crosland stehen der tschechisch-deutsche Stummfilm So ist das Leben (Takový je život, 1930), der das Pech hatte, erst herauszukommen, als der Tonfilm gerade zum Standard wurde, und der stumm gedrehte ethnografische Film The Silent Enemy (1930), dem man für die Premiere kurzerhand einen gesprochenen Prolog hinzufügte.


Klassiker und Wiederentdeckungen
Die Höhepunkte des Festivals sind jedoch wiederum die musikalischen Live-Vertonungen von Stummfilmklassikern und kürzlich wiederentdeckten oder neu restaurierten Raritäten. So erlaubt gleich der Festivalstart, einen in der Filmgeschichtsschreibung vielfach erwähnten, aber kaum je gezeigten deutschen expressionistischen (oder zumindest teilweise expressionistischen) Film zu entdecken, den das Münchner Filmmuseum rekonstruiert hat: Algol. Tragödie der Macht (1920). Man darf in ihm so etwas wie den «missing link» zwischen den berühmten Klassikern Caligari und Metropolis sehen. Zwei britische Wiederentdeckungen bereichern unser Bild vom Film der 1920er Jahre auf ganz unterschiedliche Weise: Shooting Stars (1928) ist nicht nur der Erstling eines der später wichtigsten britischen Filmemacher, Anthony Asquith, er bietet uns als Film aus dem Filmmilieu zudem amüsante Einblicke in die damalige Drehpraxis. The Rat (1925), ein Werk von Alfred Hitchcocks Lehrmeister Graham Cutts, erlaubt es abzuschätzen, an welche Tradition der junge Hitchcock anknüpfen konnte. Der vom National Film Center Tokyo restaurierte A Diary of Chuji’s Travels (Chuji Tabinikki) leistet Entsprechendes für den Samurai-Film: Nicht erst Akira Kurosawa hat dieses Genre seiner kriegerisch-heroischen Verklärung entkleidet und eine unheldisch-menschliche Samurai-Figur geschaffen!
Selbst im am ehesten bekannten Bereich des stummen Films, der Slapstick-Komödie, gibt es noch Entdeckungen. Die titelgebende Battle of the Century galt zwar unbestritten als die grösste und umwerfendste aller Tortenschlachten – doch hat sich nun herausgestellt: Das war nur der halbe Film! Auch Chaplins The Cure wurde immer wieder gezeigt, selbst in Kinderfilm-Matineen, aber jetzt liegt er in restaurierter, vervollständigter Fassung vor, und siehe: Er ist keineswegs so harmlos-«jugendfrei», wie man dachte. Und der Starkomiker Harold Lloyd zeigt in The Kid Brother, dass er durchaus nicht nur als linkischer Städter zu überzeugen vermag.
Auch an leiseren Komödientönen herrscht im Festivalprogramm kein Mangel: So kann man Douglas Fairbanks, eher als Held akrobatischer Actionfilme bekannt, in When the Clouds Roll By (1919) in jenem komödiantischen Register erleben, in dem er zum Star wurde. René Clair schafft es in Un chapeau de paille d’Italie, den Dialogwitz der zugrunde liegenden Boulevardkomödie in ein Feuerwerk witziger Bildeinfälle zu verwandeln. Ähnlich frei geht Boris Barnet mit einem ihm aufgetragenen Pflichtstoff um: Was ein Werbefilm für die sowjetische Staatslotterie hätte werden sollen, wurde unter seinen Händen zu einem mal subtil-komischen, mal satirischen Zeitbild: Das Mädchen mit der Hutschachtel.


Lebendige Musik
Musikalisches Feuer hauchen diesen Filmen einmal mehr die «Hauspianisten» des Filmpodiums ein: Martin Christ (Ligerz), André Desponds und Alexander Schiwow (Zürich). Dazu kommt als prominenter Zürcher Gast Bruno Spoerri. Sie treten auf neben und zum Teil mit internationalen Koryphäen der Stummfilmmusik. Viele davon sind als regelmässige Gäste hier schon bestens bekannt, wie die niederländische Pianistin Maud Nelissen, ihre Kollegen Stephen Horne (London) und Gabriel Thibaudeau (Montréal), der Pianist und Violinist Günter A. Buchwald und der Schlagzeuger Frank Bockius (beide Freiburg i. Br.). Erstmals in Zürich auftreten wird Richard Siedhoff (Weimar) – die Kunst der einfühlsamen Stummfilmbegleitung stirbt nicht aus, sondern lebt in jüngeren Musikern weiter.
Als Kontrast zu diesen künstlerischen Dialogen zwischen alten Filmen und heutigen Musikern stehen wieder zwei Filme mit zeitgenössischer Originalmusik auf dem Programm: Nachdem vor zwei Jahren Edmund Meisels kongeniale Komposition zum Panzerkreuzer Potemkin zu hören war, erklingen diesmal zwei weitere seiner Originalmusiken: jene zu Sergej Eisensteins Oktober und zu Walter Ruttmanns Berlin, die Sinfonie der Grossstadt. Und zu The Circus wird Chaplins eigene, viel später eingespielte Musik erklingen.
Pamela Hutchinson berichtete in der Zeitschrift «Sight & Sound» kürzlich, dass auch einige bekannte heutige Regisseure die Qualitäten des «sprachlosen» Films zu schätzen wissen. Gus Van Sant habe ebenso eine stumme Version seines Dramas Restless angefertigt wie George Miller von Mad Max: Fury Road, und Steven Soderbergh habe denselben Versuch mit dem bekannten Raiders of the Lost Ark seines Kollegen Steven Spielberg unternommen. «It is interesting», schreibt sie, «that the silent mode is a standard by which sound filmmakers judge each other’s work.»
So war es naheliegend, das Programm des – mit The Jazz Singer ohnehin grenzsprengenden – Stummfilmfestivals in diesem Jahr anzureichern mit Beispielen aus neuerer Zeit, in denen innovative Regisseure sich von den grossen alten Vorbildern inspirieren liessen zu «stummen» oder zumindest weitgehend auf Sprache verzichtenden Filmen.
Martin Girod