Seltenheitswert hat im Kino ein Pazifismus jenseits von abschreckenden Kriegsszenen und süsslichen Friedensparolen. Renoirs Film über die Fluchten französischer Offiziere aus deutschen Lagern des Ersten Weltkrieges bleibt eines der grandiosen Beispiele dieser Art – kraft der Noblesse, die er allen Figuren zubilligt. Unerhört unparteiisch breitet Renoir seine Geschichte vor uns aus: Da sind zwei französische Fliegeroffiziere, der proletarische Maréchal und der aristokratische Boïeldieu, die vom Deutschen Rauffenstein abgeschossen worden sind und in ein erstes Kriegsgefangenenlager kommen, wo sie mit Landsleuten aus unterschiedlichsten Milieus einen Fluchttunnel graben. Und da sind die mitgefangenen Engländer und Russen sowie die deutschen Wachen und Vorgesetzten, die alle in knappen Szenen genauso prägnant und unparteiisch mitskizziert werden. Die resultierende Offenheit für konträre Auslegungen hat aber nicht nur mit Renoirs Unvoreingenommenheit allen Charakteren gegenüber zu tun, sondern auch mit seiner stilistischen Diskretion: Die Gänge, die Auf- und Abtritte seiner zahllosen Figuren sind so ausgeklügelt choreografiert, dass keine herausgehobene Identifikationsfigur, sondern nur das facettenreiche Ensemble die Idee des Filmes portiert.
Natürlich entwickelt La grande illusion bei allem stilstisch-ideologischen Understatement doch das zentrale Thema und renoirsche Credo von den horizontalen (sprich: sozialen) Grenzen, welche die Welt nachhaltiger prägen als die vertikalen (sprich: geografischen). Nur wäre Renoir nicht Renoir, würde er auch diese thesenhafte Frontziehung nicht sogleich wieder durchbrechen. Ob über nationale oder soziale Grenzen hinweg: Renoirs Helden verletzen nie den Stolz des Unterlegenen. Diese allseits praktizierte Fairness bildet die eigentliche pazifistische Botschaft des Films. (afu)
Drehbuch: Charles Spaak, Jean Renoir
Kamera: Christian Matras, Claude Renoir
Musik: Joseph Kosma
Schnitt: Marguerite Renoir, Marthe Huguet
Mit: Jean Gabin (Lieutenant Maréchal), Erich von Stroheim (Major von Rauffenstein), Pierre Fresnay (Captaine de Boëldieu), Marcel Dalio (Lieutenant Rosenthal), Dita Parlo (Elsa), Julien Carette (Cartier, der Schauspieler), Jean Dasté (der Lehrer), Gaston Modot (der Ingenieur), Sylvain Itkine (Lieutenant Demolder), Werner Florian (Feldweibel Arthur), Jacques Becker (ein englischer Offizier)
113 Min., sw, 35 mm, F/d