Drama nach Tatsachen. 1798 wird in einem französischen Wald ein verwildertes Kind gefunden, das nicht sprechen kann. Dr. Jean Itard vom Taubstummeninstitut in Paris nimmt den Wolfsjungen unter seine Fittiche und versucht ihn in die Zivilisation zu integrieren.
«L’enfant sauvage handelt von Erziehung im fundamentalsten Sinne: von Erziehung als dem Verfahren, mit dem die Gesellschaft jedes Jahr Millionen buchstäblich wilder Kleinkinder nimmt und sie allmählich dazu verführt, die Konventionen aller anderen zu teilen. Freilich stellt sich die Frage, ob ‹Zivilisierung› dem Menschen bekommt oder ob er im Naturzustand glücklicher wäre. In dieser Frage wurzelt der Film. Da der Junge nie ‹normal› in der Gesellschaft funktionieren kann, hätte man ihn im Wald lassen sollen? Das ist eine Frage für uns, in dieser unsicheren Zeit, nicht aber für den Doktor, der den vernunftgemässen Optimismus eines Jefferson teilt und den Wert seiner Bemühungen nie ernsthaft hinterfragt. Er glaubt an die Menschenwürde und verabscheut die Vorstellung, dass ein Mensch im Wald ergattert, was er kann, um zu überleben.
Truffaut verleiht jedem Bild des Films seine persönliche Note. Er hat ihn geschrieben, inszeniert und spielt selbst den Doktor. Es ist eine dezente, einfühlsame Darbietung, ein perfekter Kontrapunkt zu Jean-Pierre Cargols Wildheit und Angst. Die laufende Chronik der Versuche des Doktors, dem Jungen beizubringen, wie man aufrecht geht, sich ankleidet, anständig isst, Töne und Zeichen erkennt, ist endlos faszinierend. Allzu oft fesseln Filme unsere Aufmerksamkeit mithilfe von knalligen Tricks und billiger Melodramatik; es ist eine geistig läuternde Erfahrung, sich diesen intelligenten und hoffnungsvollen Film anzusehen.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 16.10.1970)
Drehbuch: François Truffaut, Jean Gruault, nach «Mémoire et Rapport sur Victor de l'Aveyron» von Dr. Jean Itard
Kamera: Néstor Almendros
Musik: Antonio Vivaldi
Schnitt: Agnès Guillemot
Mit: Jean-Pierre Cargol (Victor de l'Aveyron), François Truffaut (Dr. Jean Itard), Françoise Seigner (Madame Guérin), Jean Dasté (Prof. Philippe Pinel), Pierre Fabre (Pfleger im Institut)
83 Min., sw, 35 mm, F/d, ab 12