Léon stammt aus guten Verhältnissen, aber die Konsumgesellschaft verabscheut er. Er jobbt als Wachmann und begegnet dabei einer Gruppe von Leninisten, die sich für die Belange krisengeplagter Arbeiter einzusetzen versuchen. Léon verguckt sich in Léa, die Freundin des Anführers. Seine nicht ganz selbstlose materielle Unterstützung für die Möchtegern-Revolutionäre ruft bald die Polizei auf den Plan.
«Als engagierter Filmemacher, der die 68er-Unruhen in Genf mitverantwortete, kämpferische Kurzfilme realisierte und den explosiven Vive la mort (in der ersten Quinzaine des réalisateurs) präsentierte, kommt Francis Reusser mit Le grand soir ebenso auf seine aktivistischen Jahre zurück wie auf eine gewisse Ernüchterung, die darauf folgte. Die erhoffte Revolution fand nicht statt, und die Revolutionäre von gestern passten sich der bürgerlichen Gesellschaft an. 1976 mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet.» (Frédéric Maire, Katalog Locarno 2019)
«‹Die Filme von Soutter, Tanner, Goretta›, schrieb Martin Schaub 1976 in der ‹Weltwoche›, «entstehen am Drehort; Le grand soir entstand am Schneidetisch.› Und: ‹Le grand soir ist ein komplexer Film: Liebesgeschichte, Diskurs über die politische Methode, Kritik der grossen Wörter. Das ist neu bei Francis Reusser, der die grossen Wörter nach 1968 auch gebraucht hat.›
Die Figuren, mit denen Reusser diese Reflexion und Distanzierung von 68 vornimmt, heissen Léa und Léon: Sie ist Mitglied einer leninistischen Gruppe, die besser als die Arbeiter zu wissen glaubt, was jene denken und wollen. Er tappt als Securitaswächter in eines ihrer konspirativen Treffen und wirkt in seiner Uniform zunächst wie der klischeehafte Klassenfeind, der sich ans Kapital verkauft hat. Doch das Zusammentreffen stellt beide infrage: Warum dient Léa als Tippmamsell, Megafonhalterin und Geliebte eigentlich so widerspruchslos dem Chef ihrer Gruppe zu? Und versteckt sich hinter Léons anarchistischem Einzelgängertum nicht einfach ein Spiesser?
‹Während der Arbeit am Film›, schrieb Beatrice Leuthold 1976 im ‹Tages-Anzeiger›, ‹haben sich die Darsteller verselbständigt. Szenen und Dialoge kamen spontan zustande. Léa wurde eine weit positivere Figur, als ursprünglich geplant war. Léons Eigenbrötlerei, sein Fatalismus warfen Schatten auf seine lustvolle Art zu leben.›
‹Le grand soir› übrigens ist ein Begriff aus der Zeit der Pariser Kommune und bezeichnet das grosse Fest nach dem Sieg des Volkes. Es soll oft besungen, bisweilen gefeiert, mitunter auch abgebrochen worden sein. So wurde es zur Chiffre für eine Sehnsucht, die sich durch alle Zeiten zieht.» (Andreas Furler, Filmpodium Juli/Aug. 2009)
Drehbuch: Jacques Baynac
Kamera: Renato Berta
Schnitt: Edwige Ochsenbein
Mit: Jacqueline Parent (Léa), Nils Arestrup (Léon), Arnold Walter (Raoul), François Berthet (René), Marina Bucher (Marina), Jacques Roman (Félix), Roland Sassi (erster Polizist), Claude Para (zweiter Polizist)
95 Min., Farbe + sw, DCP, F/d