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Faustrecht der Freiheit

Nachdem er das Werk Douglas Sirks für sich entdeckt hatte, schuf Rainer Werner Fassbinder eine eigene Reihe von sozialkritischen Melodramen. Dazu gehört auch Faustrecht der Freiheit (1975).
Spielzeiten: Di, 25.10., 20:45 // Di, 8.11., 18:15

Der arbeitslose Franz gewinnt im Lotto und wird von der Münchner Schwulen-Schickeria aufgenommen. Er verliebt sich in den smarten Eugen, merkt aber nicht, wie dieser Herrensohn ihn zugleich verachtet und ausbeutet.
«Die (...) Lehre, die Fassbinders Melodramen aus dem Klassizismus Sirks zogen, bestand darin, Fragen der Identität und Subjektivität mit Klasse, Geld und Status so zu verknüpfen, dass sie sich nicht im ödipalen Drama des Patriarchats erschöpften. Für eine ‹Politik der Darstellungsformen› erweist sich das Melodram als progressiv, weil es drei normalerweise isolierte Sphären kurzschliesst: die soziale Sphäre der Mittelschichten, die räumliche Sphäre des Privaten in der Kleinstadtgesellschaft und die emotionale Sphäre der Familie. Mit anderen Worten: Das Melodram stellt implizit die konventionelle, für die bürgerliche Ideologie seit der Aufklärung zentrale Trennung des Privaten und des Öffentlichen in Frage. Allerdings: So radikal es gewesen sein mag, nach Sirkʼscher Hollywood-Manier die repressiven Effekte von Klasse, Patriarchat und Ökonomie auf die westdeutsche Familie präzise zu beschreiben, so sorgte Fassbinders Modell eines politischen Melodrams auch für Feinde auf der Seite der Linken. Filme wie Faustrecht der Freiheit (...) legten den Gedanken nahe, es gäbe zwischen linksradikalen Überzeugungen und kapitalistischer Politik keine sonderlich grossen Unterschiede, wenn man, wie Fassbinder es tat, emotionale Ausbeutung mit ökonomischer Ausbeutung gleichsetzt. Aber gerade seine Einschätzung, dass die Politik der Sexualität wahrscheinlich eher den Schlüssel zum Klassenkampf darstellt als umgekehrt, sollte sich in der Folge als scharfsinnig und prophetisch herausstellen.» (Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, Bertz 2001)

Rainer Werner Fassbinder (BRD 1975)

«Niemand beherrscht die delikate Kunst, das Bizarre mit dem Alltäglichen zu verbinden, besser als Rainer Werner Fassbinder. Seine Formel ist fies und einfach. Er beginnt, oft genug, mit Elementen reisserischer Sexualität. Dann filmt er gegen den Strich, sucht sich bewusst banale Figuren und Orte. Und dann, in einer doppelten stilistischen Umkehrung, filmt er seine banalen Subjekte mit einer höchst manierierten Künstlichkeit.
Das Ergebnis ist uneinheitlich, aber wenn einer 33 Filme gemacht hat und erst 36 Jahre alt ist, kann man ihm eine gewisse Unausgeglichenheit nachsehen. Was zählt, ist, dass Fassbinder, wenn alles funktioniert, eindringliche Werke schafft.
Das gilt für seinen besten Film, Angst essen Seele auf, in dem es um die Folgen einer Ehe zwischen einer 60-jährigen polnischen Putzfrau und einem 30-jährigen marokkanischen Arbeiter geht. Das gilt auch für Die bitteren Tränen der Petra von Kant mit seiner zum Scheitern verurteilten lesbischen Dreiecksbeziehung, für Wildwechsel mit seinem pummeligen 13-jährigen Flittchen und für Händler der vier Jahreszeiten mit seinem trunksüchtigen Obstverkäufer.
Ganz besonders gilt das für Faustrecht der Freiheit, einen Film aus dem Jahr 1975, der beim Chicago Film Festival mit dem Goldenen Hugo ausgezeichnet wurde. Fassbinder selbst spielt darin die Hauptrolle, einen naiven und leicht dumpfen jungen Mann aus der Arbeiterklasse, der in der staatlichen Lotterie gewinnt und – und samt seinem Lottogewinn – bald in der Münchner Schwulenszene aufgenommen wird.
Zu Beginn scheint der Film von einer homosexuellen Beziehung zu handeln; der leicht verblendete junge Held wird von dem oberflächlich charmanten Sohn eines reichen Unternehmers unter die Fittiche genommen. Aber dann werden die Dinge kompliziert. Der Unternehmer, so erfahren wir, steht kurz vor dem Bankrott. Der Sohn hofft, die Firma zu retten. Eine Lösung könnte darin bestehen, den leicht zu umschmeichelnden Lotteriegewinner um sein Vermögen zu betrügen – unter dem Vorwand der Liebe.
Fassbinder ist ein Spezialist für Szenen, in denen das Unaussprechliche ausgesprochen, das Undenkbare gedacht, das Unmachbare gemacht wird, und zwar heftig. Alle drei Elemente kommen in den besten Szenen des Films zum Tragen, und dazu gehört eine brillant komplexe Diner-Szene. Der Sohn des Unternehmers bringt seinen neuen Geliebten mit nach Hause, um ihn seinen Eltern vorzustellen, und es wird auf erschreckende Weise klar, dass das Problem in dieser Familie nicht Sex ist, sondern Geld. Die unerbittlich grossbürgerlichen Eltern und ihr schwuler Sohn betreiben in Wirklichkeit eine Art stillschweigende Prostitution, indem sie die modische Fassade ihres Lebens gegen das Geld eintauschen, das sie dringend brauchen.
Faustrecht der Freiheit geht in der schwulen Demimonde ein und aus: ihren Bars mit amerikanischem RockʼnʼRoll aus der Jukebox, ihren Partys, ihren Intrigen. Und allmählich wird der unterschwellige Inhalt des Films deutlich. Fox ist ein Opfer der kapitalistischen Gesellschaft, die ihn so plötzlich reich gemacht hat, und er wird verraten von ‹Freundschaften›, von denen er nicht einmal merkt, dass er dafür bezahlt.
Es gibt eine besonders erschütternde Szene, in der ihm sein Geliebter die teuer eingerichtete Wohnung zeigt, die er für ‹sie beide› eingerichtet hat. In Faustrecht der Freiheit wie auch in Angst essen Seele auf und Händler der vier Jahreszeiten vollbringt Fassbinder ein ziemlich heikles Kunststück: Er beginnt mit dem Stoff einer Seifenoper und erweitert diesen zu einer Anklage der Gesellschaft.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Tribune, 16.2.1979)

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Kamera: Michael Ballhaus
Musik: Peer Raben
Schnitt: Thea Eymèsz

Mit: Rainer Werner Fassbinder (Franz Biberkopf), Peter Chatel (Eugen), Karlheinz Böhm (Max), Rudolf Lenz (Rechtsanwalt), Karl Scheydt (Klaus), Hans Zander (Springer), Kurt Raab (Wodka-Peter), Christiane Maybach (Hedwig, die Schwester), Adrian Hoven (Eugens Vater), Ulla Jacobsen (Eugens Mutter), Irm Hermann (Madame Chérie), Ingrid Caven (Sängerin)

123 Min., Farbe, DCP, D

Spieldaten


Vergangene Vorstellungen:
Di.,
25.10.2022
20:45
Di.,
8.11.2022
18:15
Einführung: Martin Walder