Marcel Carné: Der soziale Fantast
Marcel Carné, der grosse Meister des «poetischen Realismus», wäre am 18. August hundert Jahre alt geworden. Im Dichter Jacques Prévert fand der ehemalige Assistent von René Clair und Jacques Feyder einen Seelenverwandten; gemeinsam schufen sie melancholische Meisterwerke wie Les enfants du paradis, Quai des brumes und Hôtel du Nord. Seine Filme sind durchwirkt von Sehnsucht und Vergeblichkeit und feiern gleichzeitig die Unbedingtheit der Liebe.
Buntes Treiben herrscht auf dem Boulevard du Crime. Ein Seiltänzer balanciert über den Köpfen der Menge; Akrobaten, Zauberer und Schauspieler buhlen um die Gunst des Publikums. Die Kamera folgt einem Lumpensammler, der sich seinen Weg durch den fröhlichen Tumult der Pariser Theatermeile bahnt. Hier wird sich das Schicksal eines ganzen Ensembles von Figuren erfüllen, hier finden die «Enfants du paradis» ihre Bestimmung.
Ein sehr französisches Melodram: Der Aufruhr der Gefühle wird stets durch ein Zwischenelement ironischer Weltläufigkeit besänftigt. In keinem anderen Film herrscht eine so erhabene, lebenskluge Traurigkeit, gehen Melancholie und Leichtsinn eine solch innige Liaison ein. Das Meisterwerk von Marcel Carné und seinem Drehbuchautor Jacques Prévert entlarvt die Liebe als romantische Täuschung, verwehrt aber Figuren und Zuschauern nie den Ausweg in die Fantasie. Elegant werden Kunst und Leben parallel geführt: als Wechselspiel von Erkenntnis und Sublimierung.
Der Film entstand während der deutschen Besatzung, seine Uraufführung fand erst nach der Befreiung statt und wurde zum Triumph. Seither gehört er zum stolzen französischen Kulturgut. Für den Regisseur war er jedoch Segen und Fluch zugleich: All seine späteren Filme wurden daran gemessen, Marcel Carné verbrachte den Rest seiner Karriere gleichsam in seinem eigenen Schatten. Tatsächlich ist Carné eine der grossen rätselhaften Persönlichkeiten der Filmgeschichte. Die thematische und stilistische Kontinuität, die es etwa im Schaffen von René Clair, Max Ophüls oder Jean Renoir gibt, fehlt seiner Karriere auf den ersten Blick. War nicht ohnehin Prévert die treibende künstlerische Kraft? Arbeitete Carné nicht eher wie ein Hollywoodregisseur, der vom Talent seiner Mitarbeiter und einer funktionierenden Industrie abhängig ist? Hat er sich schliesslich nicht selbst einmal mit einem Dirigenten verglichen, der ein erlesenes Ensemble (darunter die Kameraleute Eugen Schüfftan, Curt Courant und Roger Hubert, den Szenenbildner Alexandre Trauner, die Komponisten Maurice Jaubert und Joseph Kosma und nicht zuletzt Darsteller wie Arletty, Jean-Louis Barrault, Pierre Brasseur und Jean Gabin) leitet? Eine Karriere im Zeichen von Ruhm und Kränkung.
Träume vom Anderswo und Anderssein
Früh entdeckte er seine Begeisterung fürs Kino, schon 1929 drehte er einen ersten Kurzfilm, Nogent, Eldorado du dimanche, eine impressionistische, halbdokumentarische Studie über das beliebte Ausflugsziel der Pariser. Nach Lehrjahren als Assistent von Jacques Feyder und René Clair führte er beim Melodram Jenny zum ersten Mal selber Regie. Bei der Suche nach einem geeigneten Autor für die Überarbeitung des Drehbuchs stiess er auf Jacques Prévert. Brauchte der «prosaische» Carné einen «poetischen» Gegenpart? Die lyrischen Qualitäten seines ersten Kurzfilms widersprechen dieser Vermutung. Zwischen den beiden bestand vielmehr ein Gleichklang der Weltsichten und Vorlieben. Ihre Filme sind Plädoyers für die Unbedingtheit der Liebe, welche sie als wiedergewonnene Unschuld idealisieren. Ihre Schauplätze sind Durchgangsorte, die Träume vom Anderswo und Anderssein gebären. Der gedankenverlorene, sehnsüchtige Blick aus dem Fenster ist ein zentrales Bild in ihren Filmen. In wenigen Jahren schufen sie ein eigenes, fest umrissenes Universum, in dem Dialogzeilen und Requisiten zwischen den Filmen zirkulieren.
In Quai des brumes und Le jour se lève gelang ihnen die vollendete Ausformulierung des Kinomythos Gabin als entfremdetem, proletarischem Aussenseiter, dessen Lebenswille durch den Verrat der Liebe und die Verworfenheit der Gesellschaft gebrochen wird – vielleicht verlieh Carné seine Homosexualität eine besondere Empfindsamkeit, eine Empathie für Randfiguren der Gesellschaft. Sein Werk wird von nun an bevölkert von entwurzelten, verwaisten Figuren. Sie sind freilich getragen von einem dichten Netz der Solidarität. Diese erfüllt sich in Gesten der Gemeinschaft und Gastfreundschaft; das Gefühl von Zusammengehörigkeit wurzelt in der Erfahrung der Vergeblichkeit von Träumen und Ambitionen.
So wurde Carné zum Protagonisten des «poetischen Realismus». Er selbst zog den Begriff «le fantastique social» vor, denn er räumt der Vorstellungskraft des Regisseurs grösseren Platz ein. Nicht das Vorgefundene, sondern das Gestaltete dominiert in seinen Filmen. Die Künstlichkeit der Dekors verwandelt alltägliche Schauplätze in Bühnen der Sehnsucht und metaphysischen Qual. Die Lichtführung ist nicht naturalistisch, sondern stilisiert. Préverts Zeichnung der Figuren entrückt sie sanft ihrem Milieu. Im Kern erzählen er und Carné schwermütige Märchen. Quai des brumes und Le jour se lève beruhen auf mythologischen Konstellationen: Gabin verkörpert den Ritter, der die Prinzessin aus den Fängen des Ungeheuers befreien will. Die Vorsehung nimmt in Les enfants du paradis und später Les portes de la nuit die Gestalt eines Lumpensammlers bzw. Clochards an, die daran verzweifeln, das Schicksal der Figuren nicht ändern zu können.
Das atmosphärische Erzählen
Man kann in ihnen jeweils ein Alter Ego ihres Regisseurs sehen, der sein eigenes Vorgehen reflektiert. Der Clochard lenkt den Blick der Figuren, öffnet ihnen neue Sichtweisen. Carnés Kameraführung verbindet die unterschiedlichen Charaktere nicht nur auf pragmatische, funktionale Weise miteinander. Schwenks und Fahrten haben stets auch psychologische und metaphysische Beweggründe. Beharrlich überwinden sie Hindernisse, um die Figuren aus anderen Perspektiven, in einem anderen Rahmen zu sehen.
In seiner Inszenierung verdichten sich Milieus und ein Zeitklima. Zwischen dem Scheitern der Volksfront-Regierung und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schuf er ein Kino der poetischen Zeitgenossenschaft. Die Tatsache, dass die Besitzer des Hôtel du Nord einen spanischen Waisenjungen adoptiert haben, werden die Zuschauer sehr wohl als Anspielung auf den Bürgerkrieg verstanden haben. Der legendäre «atmosphère, atmosphère»-Dialog aus Hôtel du Nord demonstriert, wie sehr diese zum eigentlichen Beweggrund seiner Art des Filmemachens wird. Sie entsteht aus dem Zusammenprall unterschiedlicher Temperamente, aus der Reibung oder der inneren Verwandtschaft der Charaktere. Les portes de la nuit führte dem Nachkriegspublikum die bedrängende Alltagswirklichkeit vor: Schwarzmarkt, Hunger, die Rationierung von Brennstoff und Lebensmitteln. Mit diesen Erinnerungen wollten die meisten Zuschauer nach der Befreiung nicht mehr konfrontiert werden.
Nach dem Krieg schien der Studiorealismus seines Kinos vom italienischen Neorealismus überholt. In der heftigen Kritik, die Carné in den fünfziger Jahren entgegenschlug, klingt oftmals ein Unterton der Homophobie an. Seine erbittertsten Gegner waren die jungen Kritiker der «Cahiers du cinéma», die später als Regisseure das französische Kino revolutionieren sollten. Mit seinem letzten wichtigen Film kam er ihnen jedoch zuvor: Les tricheurs war der grösste Kassenerfolg der Saison 1958–59 und spiegelt das Lebensgefühl der jungen Generation stimmiger wider, als es den Verfechtern der Nouvelle Vague lieb ist.
Gerhard Midding
Gerhard Midding lebt als freier Filmjournalist in Berlin und ist einer der besten Kenner des französischen Kinos.