Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück

Britisches Nachkriegskino: Leidenschaftlich eigensinnig

Nach der umfassenden David-Lean-Retrospektive von 2008 unternehmen wir erneut eine Erkundungstour durch das britische Kino der vierziger und fünfziger Jahre: die grosse Zeit Carol Reeds, des experimentierfreudigen Gespanns Powell & Pressburger und der herrlich schrulligen Ealing-Komödien. Exquisite Literaturverfilmungen, eine Auswahl herausragender Kriegsfilme und Noirs sowie eine Hommage an den Dokumentarfilmpoeten Humphrey Jennings ergänzen die reiche Palette. Die Bewunderung der Kritiker funktioniert oft nach dem Ausschlussverfahren. François Truffaut etwa gab sich gern als Verächter des britischen Kinos; Filme wie Brief Encounter erschienen ihm allzu reserviert und kleinbürgerlich. Diese demonstrative Geringschätzung diente ihm freilich vor allem als Schachzug, um seinen Heroen Alfred Hitchcock als den einzigen wahren Filmemacher feiern zu können, den die Insel hervorgebracht habe.
Die Filmgeschichte ist da grosszügiger. Die David-Lean-Retrospektive von 2008 im Filmpodium hat eindrücklich gezeigt, was von derlei Urteilen zu halten ist. Tatsächlich erlebte das notorisch von Krisen geschüttelte Kino Grossbritanniens in und nach den Kriegsjahren eine erstaunliche Blüte. Die Bedrohung der eigenen Nation stimulierte unterschiedlichste Filmemacher, mit diskretem Wagemut und leidenschaftlichem Eigensinn die kleinen Sorgen und existenziellen Ängste des Publikums auf der Leinwand zu reflektieren. Dieses Kino hielt Widersprüche aus. Dank der poetischen Sorgfalt des Dokumentaristen Humphrey Jennings erschien der Alltag wunderlich und besass selbst das von deutschen Bomben verheerte London eine trotzige Schönheit. Das unverbrüchlich optimistische Gemeinschaftsgefühl, das in Carol Reeds geradezu heiterem Propagandafilm The Way Ahead herrscht, verträgt sich auf den ersten Blick gar nicht mit dem Klima der Desillusionierung seiner Nachkriegsfilme. Das Publikum konnte diesen Wandel jedoch nachvollziehen; es hatte ihn selbst durchlebt.
Eigentlich hätte auch Truffaut, der sich als Regisseur behutsam in die Welt von Kindern einfühlen konnte, seinen Frieden mit diesem Kino schliessen können. Es hätte schon genügt, sich Reeds The Fallen Idol anzuschauen, ein Meisterwerk des zweifachen Blicks: Zum einen macht sich Reed die Perspektive eines kleinen Jungen zu eigen, der die Welt der Erwachsenen beobachtet, ohne sie zu verstehen. Zum andern ist auch in den subjektiven Einstellungen aus der Sicht des Jungen stets der Blick eines Erwachsenen enthalten, der mehr erahnt als das Kind.

Heilsam selbstironisch
Im Gegensatz zu Hollywood besassen nur wenige britische Studios einen fest konturierten, unverwechselbaren Stil. Gainsborough Pictures war auf melodramatische Ausstattungsfilme spezialisiert, Hammer entwickelte sich zu einer Horror-Schmiede. Am nachdrücklichsten zelebrierten die von Michael Balcon geleiteten Ealing-Studios das britische Selbstverständnis. Obwohl nur etwa ein Drittel der im Studio produzierten Filme Komödien waren, wurde der Name zum Synonym für einen gehobenen, auf den ersten Blick unverfänglichen komödiantischen Stil, der nationale Eigenheiten mit milder Ironie verspottet. Selbst die Schwärze des Humors von Kind Hearts and Coronets überschreitet letztlich nie die Grenzen des Behaglichen.
Die klassischen Ealing-Komödien entwerfen ein Bild des Vereinigten Königreichs, das von stolzer, idyllischer Provinzialität ist (selbst wenn die Filme in London spielen), gleichwohl aber zu heilsamer Selbstironie fähig. Es herrscht ein Geist massvoller Unabhängigkeit, der Traditionsgläubigkeit und Patriotismus mit einer sachten Lust an der Anarchie vermählt. Die Komödien beschwören die Unverwüstlichkeit der kleinen Leute, die die grossen Erschütterungen ihrer Zeit souverän parieren. Letztlich sind es Komödien der Stammeszugehörigkeit. Filme wie The Lavender Hill Mob und Whisky Galore! werden bevölkert von gutmütigen Sonderlingen, mit denen sich ein Massenpublikum identifizieren konnte. Die Umbrüche der Nachkriegszeit erschliessen sie als ein Erzählterrain von überschaubarer sozialer Reichweite. Im Zentrum steht meist eine eigenbrötlerisch verschworene Gemeinschaft, die ihre Identität misstrauisch gegen äussere Einflüsse zu behaupten weiss.
Der Ealing-Chef Balcon gewährte grosszügige Freiräume. Jede Episode des Gruselfilms Dead of Night (ein für das Studio reichlich untypisches Genre) verrät die Handschrift ihrer jeweiligen Autoren und Regisseure, die gleichwohl in einem ästhetischen Gesamtkonzept aufgeht. Ealing-Filme verschlossen auch vor der Kehrseite der Idylle nicht die Augen. Alberto Cavalcanti bereicherte den Propagandafilm mit Went the Day Well? um eine subversive, nachgerade buñuelsche Variante. Nach einer Vorlage von Graham Greene erzählt er vom Widerstand eines Dorfes gegen eine (als Manöver britischer Truppen getarnte) deutsche Invasion, bei dem die Wehrhaftigkeit der unbescholtenen Dorfbewohner in eine verstörende Mordlust umschlägt. Unter Balcons Ägide wurde Robert Hamer nach dem Krieg zu einem Chronisten der verratenen Träume und gescheiterten Ambitionen. Im Film noir It Always Rains on Sunday beklagt er die stickige Enge der kleinbürgerlichen Welt. Der pessimistische Gangsterfilm Nowhere to Go, das Regiedebüt seines Schwagers Seth Holt (der sich im Studio als Cutter hochgearbeitet hatte), weist schon auf die moralische Ambivalenz voraus, die später in Joseph Loseys Genrefilmen herrscht.

Restauration mit Widerhaken
Nach dem Krieg waren die Ealing-Filme Labsal für eine Nation, die den Verlust ihrer Kolonien und ihres weltumspannenden Empire verwinden musste. Die Mittelschicht wusste sich wohl repräsentiert im Kino dieser Zeit. Aber schon vor dem Aufbruch des New Cinema spiegelt dieses, wie alte Gewissheiten in Frage gestellt werden. Im Melodrama The Seventh Veil, dem grössten britischen Kassenschlager der unmittelbaren Nachkriegszeit, muss sich die Heldin aus erdrückender Vormundschaft befreien. Anthony Asquith' Verfilmungen der Stücke von Terrence Rattigan (The Winslow Boy und The Browning Version) sind auf den ersten Blick ganz den Werten des West-End-Theaters verpflichtet – erlesene Darsteller in einem fesselnden Drama –, rütteln aber beharrlich an der Selbstgewissheit der Autoritäten. Mit beträchtlichem Gespür für die Atmosphäre legen die Zwillinge John und Roy Boulting in unterschiedlichen Genres, vom düsteren Gangsterfilm (Brighton Rock) über Gesellschaftskomödien bis zum Politthriller (Seven Days to Noon), Risse in der gesellschaftlichen Ordnung frei.
Die vagabundierende Fantasie von Michael Powell und Emeric Pressburger schliesslich demonstrierte, wie viel Wildwuchs in diesem filmischen Biotop möglich war. Sie schufen ein eigenständiges filmisches Universum, in dem der Himmel in Schwarzweiss und die Erde in Technicolor gefilmt ist (A Matter of Life and Death), in dem man auch in Kriegszeiten hoffnungsvolle Pilgerreisen unternehmen darf (A Canterbury Tale) und sich die Erhabenheit des Himalaya in den Studios von Pinewood und einem Park in Sussex rekonstruieren lässt (Black Narcissus). Sie waren Alchimisten, deren exzentrische Szenarien alle Erzählkräfte mobilisierten, wi sie nur das Kino freisetzen kann. Im Rahmen des Erzählkinos drehten sie Experimentalfilme über Licht, Ton, Bewegung und Farbe. Sie blieben nonkonformistische Einzelgänger. Spuren hat ihr Stil gleichwohl hinterlassen – selbst in einem konventionellen Kriegsfilm wie The Dam Busters. Der spannungsvolle Wechsel von Stille und Lärm, von Licht und Dunkel verrät inspiriertes Handwerk. Auch der vermeintliche Triumphalismus des Films hat einen zweiten Boden: Vom Kinderspiel zur Kriegstechnik ist es nur ein kleiner Schritt.
Gerhard Midding

Gerhard Midding lebt als freier Filmjournalist in Berlin.