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Lateinamerikanische Klassiker: Der Reichtum des Andersartigen

Immer wieder hat das Filmpodium einzelne lateinamerikanische Kinematografien präsentiert, doch die beiden letzten grossen Übersichtsprogramme liegen viele Jahre zurück. Eine Vorlesungsreihe von Martin Lienhard mit anschliessender Filmvorführung gibt uns die Gelegenheit, lateinamerikanische Klassiker in einen grösseren film- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen und den Reichtum dieser Kinematografien wenigstens erahnen zu lassen. Seit etwa fünfzehn Jahren ist in Europa von einem «neuen lateinamerikanischen Kino» die Rede; Filme wie Central do Brasil, Cidade de Deus, Amores perros, Historias mínimas oder La teta asustada haben in letzter Zeit einiges Aufsehen erregt. Doch schon um 1970 wurde von einem «neuen lateinamerikanischen Kino» gesprochen: Wie die 1971 unter dem Titel «Film und Revolution in Lateinamerika» in Frankfurt organisierte Retrospektive beweist, ging es dabei meist um ein politisch engagiertes Kino, das auch in ästhetischer Hinsicht neue Wege beschritt. Die Neu- oder Andersartigkeit des lateinamerikanischen Filmschaffens wurde in Europa allerdings schon früher gepriesen; so wurden im ersten Vierteljahrhundert des Festivals von Cannes (1946-1971) Autoren wie Emilio Fernández, Luis Buñuel, Leopoldo Torre Nilsson, Lima Barreto, Margot Benacerraf, Nelson Pereira dos Santos und Glauber Rocha zum Teil mehrmals ausgezeichnet.
Wie anderswo reichen die Anfänge des Kinos in Lateinamerika in das ausgehende 19. Jahrhundert zurück. Schon um 1900 liess der mexikanische Diktator Porfirio Díaz seine imperialen Rituale im Film verewigen. Wesentlich gezielter wurde der Film dann von seinen Widersachern, den Anführern der mexikanischen Revolution (1910–1917) als Propagandainstrument eingesetzt: Pancho Villas Siege konnten wöchentlich in den Kinos bewundert werden. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in Mexiko, Brasilien und Argentinien aber auch bereits zahlreiche Spielfilme produziert, z. B. der an Originalschauplätzen gefilmte mexikanische Streifen über eine berühmte Räuberbande (La banda del automóvil gris, 1919). In den dreissiger Jahren entstand in den drei genannten Ländern eine eigentliche Filmindustrie – inklusive Star-System im Stile Hollywoods. Zwischen 1950 und 1980 produzierten die mexikanischen Studios jährlich 100 Filme und mehr (136 im Jahr 1958); mit meist mehreren Dutzend Filmen pro Jahr stellten auch Argentinien und Brasilien die Leistungsfähigkeit ihrer Filmindustrien unter Beweis.

Die Utopie eines Kinos neben dem Mainstream
Die sich über Oktober, November und Dezember erstreckende Reihe umfasst filmisch und filmhistorisch besonders bedeutsame Werke, die in Zürich mehrheitlich schon lange nicht mehr, in einigen Fällen noch gar nie zu sehen waren, auch nicht in den letzten grösseren lateinamerikanischen Retrospektiven des Filmpodiums in den Jahren 1992 und 1996. Einen kleinen Schwerpunkt setzen Filme, die kurz vor der Herausbildung des jeweiligen nationalen Mainstreams die Möglichkeit – oder die Utopie – eines andern, künstlerisch anspruchsvolleren Filmschaffens aufzeigten. In diesem Sinne führen uns Ganga bruta (1933) von Humberto Mauro und Limite (1930) faszinierende Beispiele einer spezifisch brasilianischen Avantgarde vor Augen, während Redes (1934), das kollektive Werk einer Gruppe um Fred Zinnemann und den amerikanischen Fotografen Paul Strand, das einzige Beispiel eines mexikanischen Kinos «sowjetischer» Prägung darstellt. Pueblerina (1948) von Emilio Fernández, Los olvidados (1950) von Luis Buñuel und La casa del ángel (1957) von Leopoldo Torre-Nilsson dagegen sind eigenwillige Autorenfilme, die im Rahmen einer konsolidierten nationalen Filmindustrie entstanden. Nelson Pereira dos Santos (Rio Zona Norte, 1957) und Fernando Birri (Los inundados, 1961) vertreten verschiedene Facetten eines lateinamerikanischen «Neorealismus», während Terra em transe (1967) von Glauber Rocha und Cabra marcado para morrer (1964/1984) von Eduardo Coutinho als grosse Beispiele des vielfältigen brasilianischen Cinema novo gelten dürfen. Keiner bestimmten Strömung zuzuordnen sind die unter einmaligen Umständen gedrehten ¡Que viva México! (1932/1979) von Sergej Eisenstein und Araya (1959) von Margot Benacerraf.
Insgesamt kann die Reihe «Lateinamerikanische Klassiker» zwar nicht für sich beanspruchen, die Geschichte des lateinamerikanischen Films auch nur annähernd abzubilden; sie ist aber eine aussergewöhnliche Gelegenheit, eine Reihe von herausragenden Filmen aus Lateinamerika auf der grossen Leinwand (neu) zu entdecken.
Martin Lienhard

Martin Lienhard ist Professor für hispanoamerikanische, brasilianische und portugiesischsprachige afrikanische Literatur am Romanischen Seminar der Universität Zürich. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem lateinamerikanischen Kino und den Beziehungen zwischen Literatur und Film.
Die Reihe wird im November-Dezemberprogramm fortgesetzt. Einzelne im Einführungstext genannte Filme stehen dann auf dem Programm.
Link zur Vorlesung: Klassiker des lateinamerikanischen Films