Satyajit Ray: Die Poesie des Alltäglichen
Gleich sein Erstling Pather Panchali wurde in Cannes ausgezeichnet und machte Satyajit Ray (1921–1992) international bekannt – 1956, als Europa das asiatische Kino eben erst langsam zu entdecken begann. Fast dreissig Titel umfasst das Werk des Bengalen, der vom italienischen Neorealismus, von Jean Renoir und John Ford geprägt wurde, seinen schonungslosen Blick aber auf die indische Gesellschaft und ihre Spannungsfelder richtete, bald auf die Gegenwart, bald auf die von der britischen Herrschaft geprägte Vergangenheit. Ohne Nostalgie, aber mit Respekt für die Traditionen, und immer mit einer eigenen, spezifisch filmischen Poesie.
Die Poesie des Kinos, woher kommt sie, wie funktioniert sie, wer hat sie geschaffen: «Die schönsten Sequenzen seiner Filme haben im Allgemeinen etwas Geheimnisvolles, einen unbestimmbar poetischen Charakter. Einige von ihnen wirken dermassen zufällig – ja willkürlich, dass es schwer ist, die Erfahrung, die Meisterschaft ihres ‹Autors› zu ermessen.» So hat Satyajit Ray geschrieben, in einer Würdigung des Werkes von John Ford, den er als einen seiner wichtigsten Meister ansah, neben Jean Renoir, dem er bei den Dreharbeiten zu The River assistieren durfte und dessen La règle du jeu er als einen der grössten Filme der Kinogeschichte analysierte. Wie Ray das Geheimnis der Ford-Filme beschreibt, das gilt genauso für die von Renoir und sicher auch für die von Ray selbst.
Im Westen ist er wohl, trotz eines grossen erfolgreichen Lebenswerks, bei Publikum und Kritik der Regisseur des jungen Apu geblieben; die Trilogie, in der er dessen Lehr- und Wanderjahre schildert, hat ihn bei uns bekannt gemacht. Das war in den Fünfzigern, als europäische Filmkritiker und -zuschauer langsam das asiatische Kino in den Blick bekamen, Indien vor allem und – mit Kurosawa, Mizoguchi – Japan. Pather Panchali (Song of the Little Road), sein allererster Film – er drehte ihn 1955, mit 34 Jahren –, erzählt von Apus Kindheit, in einem einsamen bengalischen Dorf zu Beginn des Jahrhunderts. Bengalisch wird das ganze Leben und Werk über die Sprache Rays und seines Kinos bleiben, eine Minderheitensprache in dem grossen Land, erst in den Siebzigern, mit The Chess Players, wird Ray seinen ersten Film in der Mehrheitssprache Hindi machen.
Blick auf die Kindheit und die Bürgerklasse
Die Kindheit, das grosse Thema des Kinos – in Apu hat sich der unschuldige Blick der Kinder auf die Welt in unfasslicher Reinheit bewahrt, ein Blick, der das ganze Leben erfasst, die materielle Not und die Verzweiflung, die Würde und die Erniedrigung, den körperlichen Verfall und das Rätsel des Todes, die Lust auf das Neue und den Drang in die Ferne, den der Schienenstrang erweckt, der das Land durchschneidet, und die Züge, die auf ihm dahinziehen.
Die Welt von Apu, das war die kleine Welt der Unterschichten, auf dem Lande zunächst, später dann in der Stadt. Eine fremde Welt hat der Bürgersohn Ray, gebildet und musisch, da erforscht. Seiner eigenen Klasse sind die meisten seiner weiteren Filme dann gewidmet. The Music Room (Jalsaghar), 1959, Kanchenjunga, 1962, The Chess Players (Shatranj Ke Khilari), 1977, The Home and the World (Ghare-Baire), 1984, oder einer seiner letzten Filme, An Enemy of the People (Ganashatru), eine Verfilmung von Henrik Ibsens «Volksfeind». An Ibsen oder Tschechow mit ihrer gesellschaftlichen Stagnation haben viele seiner Filme europäische Kritiker immer schon erinnert – die alte britisch-imperiale Kultur ist zerbrochen, die neue national-moderne noch zögerlich im Aufbau. Rays Helden sind zwar in heftiger Bewegung, aber sie treten auf der Stelle. Ihr Engagement, ihre Energie verpufft, sie verzetteln sich in unablässiger Diskussion, und all ihre Reflexionen führen sie nur auf ihren Ausgangspunkt zurück. Und grösser als alle natürlichen sind die kulturbedingten Katastrophen. Wie ein befreiendes Atemholen wirkt in diesem rastlosen Gewimmel die Endzeitstimmung von The Music Room – ein Landadliger akzeptiert den Untergang seiner Kultur, seiner Zeit. Das Land muss lernen, mit seinen Erinnerungen zu leben, mit seinen Zyklen – ohne Erinnerungsseligkeit: «Wer kann das Leben verwahren», heisst es in einem Gedicht von Rabindranath Tagore, einem anderen von Ray verehrten Meister, über den er einen kleinen Film gemacht hat: «Den Knoten der Erinnerung durchschneidend, eilt es fort auf Erdenwegen, ungebunden.»
Was die Poesie des Kinos ausmacht
Die Dialektik von Natur und Kultur, von Zivilisation und Verfall, von Freiheit und Ergebung ins Schicksal bestimmt Rays Werk. Seine letzten Filme hat er nicht mehr on location drehen können wie vor ihm Ford und Renoir; nach mehreren Herzinfarkten erlaubte der Zustand seiner Gesundheit nur noch Aufnahmen im Studio von Kalkutta, bei denen Ray sich freilich durchaus nicht schonte; schon immer hat er bei seinen Filmen auf alles geschaut, um kleinste Detail sich gekümmert. Hat die Drehbücher seiner Filme geschrieben und bei vielen die Musik, hat – als einstiger Maler und Ausstatter – ihr Design bestimmt. Eine Kunst des Minimalen, in der eine winzige Pause im Sprechen oder eine Farbnuance im Dekor mehr Effekt bewirkt als grosse Gesten oder weite Kamerabewegungen. «Diese Art Effekt gehört nur dem Kino, er gibt einem Augenblick, der sonst ohne Interesse wäre, eine poetische Färbung. Diejenigen, die dabei eine ‹Bedeutung› suchen, symbolischer oder literarischer Art, und enttäuscht sind, wenn sie keine finden, machen sich einfach nicht klar, was die Poesie des Kinos ausmacht.» Diese Poesie hat Ray immer wieder gesucht, eine Kino-Wahrheit, die vom Sujet und vom Subjekt unabhängig war, die ganz aus der Inszenierung entstand. Die innere Wahrheit, dieser Satz des alten Renoir gilt auch für Ray, verbirgt sich oft hinter einer rein artifiziellen Umgebung.
Eine Wahrheit, die sich überlegener Moral und einseitiger Parteinahme verweigert. Rays Filme dokumentieren – melodramatisch, lyrisch, poetisch – die Zerrissenheit seines Landes, seiner Klassen und Religionen und Kulturen, den Konflikt von Kolonialismus und Emanzipation; doch er beurteilt sie nicht aus einer sicheren, kritischen Perspektive. Er zeigt, wie eine Gesellschaft geworden ist, und welche Visionen für die Zukunft sie hat, um das Gewordene zu bewahren.
Sein Leben lang ist Ray der Filmamateur geblieben, als der er mit seinen Apu-Geschichten begonnen hat; und in den letzten Jahren hat er das Filmemachen wie eine Therapie betrieben, richtig glücklich ist er erst auf dem Set gewesen.
Fritz Göttler
Der Filmkritiker Fritz Göttler ist seit 1992 Redaktor im Feuilleton der «Süddeutschen Zeitung» in München.