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Dickens on Film: Unser Zeitgenosse

Charles Dickens war der meistgelesene Autor der viktorianischen Epoche und ist dank seiner Fabulierlust und ambivalenten Weltsicht bis heute einer der meistverfilmten. Das Literaturmuseum Strauhof zeigt zum 200. Geburtstag des grossen Romanciers eine Ausstellung, die wir um einige ebenso exemplarische wie unterschiedliche Dickens-Verfilmungen ergänzen. Allein wegen ihrer Anfangssätze muss man seine Bücher lieben. Sie eröffnen dem Leser augenblicklich eine ganze, vielgestaltige Welt. Vielleicht werden sie deshalb als Schullektüre so sehr geschätzt. Nehmen wir nur einmal den Auftakt von «A Tale of Two Cities» und stellen uns dazu eine High School in einem sozialen Brennpunkt im New York der 1960er Jahre vor. Die idealistische Lehrerin fordert einen Schüler auf, den ersten Absatz zu lesen. Er beginnt: «It was the best of times, it was the worst of times».
Der Roman, über hundert Jahre alt und auf der anderen Seite des Atlantiks geschrieben, schlägt die Klasse rasch in seinen Bann. Über die Frage, ob auch ihre Zeit von Hoffnung oder Verzweiflung geprägt ist, landen sie bald bei den bedrängenden Themen der Gegenwart: urbane Gewalt, Drogenhandel, Bürgerrechtsbewegung. Auf die Lärmklagen der Nachbarklassen erwidert die Lehrerin nur: «So hört es sich an, wenn Schüler denken.» Diese Szene aus Robert Mulligans wunderbarem Up the Down Staircase führt vor, was für ein verlässlicher Zeitgenosse Charles Dickens für Leser aller Epochen sein kann. Seine Bücher erzählen uns, wie wir zu dem wurden, was wir sind.
Würde man sie heute auf ihre Aktualität abklopfen, erhielte man gewiss eine Antwort darauf, was vom Kapitalismus zu halten ist. Dickens war der unermüdlich empörte Biograf eines London, in dem die Schere zwischen Armut und Reichtum himmelschreiend weit auseinanderklaffte, in dem Gier und Materialismus ihr hochmütig unmenschliches Gesicht zeigten. Ist der betrügerische Mr. Merdle aus «Little Dorrit» nicht ein direkter Vorfahre von Bernie Madoff?
Und dennoch wecken Dickens' Beschreibungen des von Gaslaternen beschienenen London eine rätselhaft legitime Nostalgie. London ist bei ihm stets auch eine Welt der Wunder, besitzt mitunter gar eine verlockend behagliche, festliche Anmutung. Und oft genug weist eine gnädige Wendung des Schicksals seinen Helden den Weg in eine unbeschwerte Zukunft. Als Engländer glaubt Dickens an die Maxime des Fair Play. Es ist diese Ambivalenz der Weltsicht, die ihn für das Kino seit 1897 (er ist der erste verfilmte Romanautor überhaupt) zu so einem beständigen Stofflieferanten gemacht hat – auch wenn nur wenige Filmemacher ihr so bezwingend Rechenschaft tragen wie Christine Edzard, die die Geschichte von Little Dorrit gleich zweimal aus verschiedenen Perspektiven erzählt.
Dickens' Name im Vorspann versprach dem neuen Medium einerseits Prestige. Zugleich war der Spannungsbogen seiner Romane (die zuerst in Fortsetzungen erschienen und die Leser stets der nächsten Wendung entgegenfiebern liessen) leicht im Kino heimisch zu machen. Der enorme Umfang und das ausufernde Personal seiner lebensprallen Gesellschaftsfresken konnten Filmemacher nie wirklich einschüchtern. Sie haben sie stets als einen «old curiosity shop» begriffen, aus dessen prunkendem Angebot man sich nach Herzenslust bedienen kann. Die Vitalität und Energie seiner Charaktere liefern Schauspielern einzigartige Steilvorlagen. Die menschliche Natur lässt Dickens in der Überzeichnung kenntlich werden. Seine Porträts sind Karikaturen, an denen stets neue Facetten zu entdecken sind.
So hat sich jedes Jahrzehnt der Filmgeschichte seinen eigenen Dickens erschlossen. In den 1930er Jahren herrschten in Hollywood die warmherzigen, pastoralen Aspekte vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg loten David Leans Meisterwerke die Düsternis der Gesellschaftsstudien aus. Mit Noel Langleys vergnüglichem The Pickwick Papers bricht in den 1950er Jahren eine restaurative, optimistischere Phase an. Carol Reed setzt dieser Tendenz 1968 mit seinem Musical Oliver! ein unverhofft beschwingtes Glanzlicht auf. Gleichwohl verrät der Film die besondere Sensibilität dieses Regisseurs für die Erlebniswelt von Kindern, die bei Dickens stets bedroht ist durch die eigennützige Ranküne der Erwachsenen: Als unehelich geborener Sohn wusste Reed um die Verletzlichkeit kindlicher Seelen. Roman Polanskis Version ist ebenfalls spürbar grundiert von dessen Lebensgeschichte: Als er in Olivers Alter war, überlebte er als Halbwaise den Krieg im Krakauer Getto; mithin teilt er die Erfahrung der Unbehaustheit in einer feindseligen Welt und weiss um den Trost von Refugien der Hilfsbereitschaft und Geborgenheit. Beide Regisseure warteten, bis sie über sechzig waren, bevor sie sich an den Stoff heranwagten. Darin liegt vielleicht das Geheimnis ihrer Zeitlosigkeit: Man kann mit Dickens' Romanen nicht nur heranwachsen, sondern auch älter werden.

Dickens im Museum: Ausstellung im Strauhof
Noch bis zum 4. März 2012 wird in zahlreichen Bild-, Film- und Tondokumenten dem Leben, dem Werk und vor allem der Wirkung des meistgelesenen Autors der viktorianischen Epoche nachgegangen.
Gegen Abgabe Ihres gebrauchten Dickens-Film-Kinotickets können Sie die Ausstellung zum Spezialpreis von 5 Franken besuchen!
Details zur Ausstellung unter Strauhof
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin und hat für das Filmpodium u. a. auch über das englische Nachkriegskino geschrieben.