Terence Davies: Im Raum der Erinnerung
Nach der Hommage an Víctor Erice (Aug./Sept. 2011) richten wir das Augenmerk auf einen weiteren Regisseur, der das europäische Autorenkino seit den siebziger Jahren mit einem kleinen, aber umso feineren Werk bereichert hat. Ähnlich wie sein spanischer Berufskollege hat sich der Brite Terence Davies ganz der Erinnerung verschrieben, in seinem Fall einer Kindheit zwischen Angst und Verzauberung im Liverpool der fünfziger Jahre.
Manchen ist sein Name vollständig unbekannt. Andere sehen in ihm «Englands grössten zeitgenössischen Filmregisseur», wie der Evening Standard einmal schrieb. Nach eigenem Bekunden trägt Terence Davies, geboren 1945 in einem Arbeiterviertel von Liverpool, immer noch das ängstliche Kind in sich, das von der Welt eher Schläge als Wohlwollen zu erwarten hat. Nichts an seinem Ruhm unter Filmkennern ist ihm geheuer. Kunst war sein Rettungsanker, und noch heute betrachtet er sich auf allen Lebensgebieten als Aussenseiter.
Seine ersten drei Kurzfilme drehte er mit minimalen Budgets in Schwarzweiss. Daraus wurde die Terence Davies Trilogy (1976–1983), die in Szenen von ungewohnter Schonungslosigkeit eine Nachkriegskindheit in Liverpool beschwört. Die fürsorgliche Mutter. Tägliche Prügel in der Schule, ob durch Mitschüler oder Lehrer. Verstohlene Blicke auf junge Männer. Zu Hause regiert der cholerische Vater, der seine Frau schlägt und seine Kinder körperlich und seelisch misshandelt. Nur die Musicals im Kino um die Ecke zaubern dem Jungen stundenweise ein besseres Reich vor die Augen.
Im Film montiert Davies zwischen die Szenen dieser Kindheitshölle Bilder eines erwachsenen, verloren wirkenden jungen Mannes, der als schwuler gläubiger Katholik von Schuldgefühlen gemartert wird. Die ganze Familie habe aufgeatmet, erzählt Terence Davies, als der Vater nach schwerer Krankheit gestorben sei. Man habe endlich zu leben angefangen. Der kleine Terence war acht und gezeichnet für immer.
Dass er sich mit seinen Kurzfilmen und den autobiografischen Werken Distant Voices, Still Lives (1988) und The Long Day Closes (1992) einen Namen machen, Preise gewinnen und Filmgeschichte schreiben würde, hatte er nicht auf der Rechnung. Er wollte, wie er immer wieder betont, lediglich seine Welt verwandeln, wie es die Hollywood-Melodramen seiner Jugend getan hatten. Niemand in der Sacred Heart Roman Catholic Boys' School, die er vier Jahre lang erlitt, bemerkte sein literarisches Talent. So früh er konnte, warf er die Schule hin und suchte sich einen Job. Er brachte es bis zum Buchhalter. Zwischendurch hatte er angefangen, Schreibkurse zu belegen. Er war nach etwas auf der Suche. Er wusste nur nicht, wonach.
Unverhofft Regisseur
«Eigentlich», sagt Terence Davies, «wollte ich Schauspieler werden. Ich habe keine Ahnung, wie mir plötzlich ein Drehbuch in den Kopf kam. Es war eine Geschichte, die ich genau so niederschrieb, wie ich sie in meinem Inneren empfand. Als ich in Coventry Theaterwissenschaften studierte, schrieb ich die letzten zwölf Seiten und schickte das Ganze ans British Film Institute. Ein halbes Jahr später kam die Antwort. ‹Wir geben Ihnen achteinhalbtausend Pfund, keinen Penny mehr. Sie führen selbst Regie.› Ich, der noch nie einen Film gedreht hatte!»
Jede bedeutende formale Neuerung in der Kunst umgibt ein Rätsel, das sich manchmal aus den Lebensumständen ihres Schöpfers erklärt. Warum schreitet die Handlung in Terence Davies' Filmen nicht chronologisch voran? Weil den Regisseur die zirkuläre Bewegung der Erinnerung interessiert, der glühende Eindruck im kindlichen Gemüt. Nicht dokumentarische Richtigkeit, sondern die ungeschriebene innere Wahrheit. Dafür hält er die Zeit an, wirbelt Sequenzen durcheinander und schafft musikdurchflutete Momente, die er mit dem Begriff «Poesie des Gewöhnlichen» umschreibt. Nichts scheint zu geschehen, doch der Zuschauer nimmt Anteil an kleinen Epiphanien.
Schönheit und Grausamkeit
In Distant Voices, Still Lives, seinem ersten langen Spielfilm, der aus zwei separat gedrehten Teilen besteht, erzählt Davies die Geschichte seiner Familie ohne sich selbst, das jüngste Kind. Zwar spielt die Handlung wie früher in dem Liverpooler Reihenhäuschen, auf dessen schmaler, steiler Treppe die Kamera so lange verweilt, als könne viel Geduld ihr das Geheimnis all jener entlocken, die sie hinauf- und hinabgegangen sind, doch eigentlich durchstreifen die Blicke des Regisseurs keinen realen Schauplatz, sondern Erinnerungsräume. Die Hochzeit der älteren Schwester, die Beerdigung des Vaters – mit zwei gemeinschaftlichen Anlässen schafft Davies ein Gerüst, um das seelische Ambiente einer englischen Arbeiterfamilie der vierziger und fünfziger Jahre einzufangen. Die Bilder von häuslicher Arbeit, vom Feinmachen der Mädchen für den Tanz sind noch in dem Mann lebendig, der vor uns sitzt. Alles ist noch da. Auch das Wissen um die väterliche Brutalität.
«Selbst mein Analytiker hasst meinen Vater», soll Terence Davies einmal gesagt haben. Und doch bedeutet der Gestus des Films nicht Abrechnung, sondern Innehalten und Gedenken. Der Mann, der so offen über seine Kindheit sprechen kann, weil nichts die Offenheit seiner Filme übertrifft, ist kein Hasser, sondern ein Beschwörer. Der letzte Teil der autobiografischen Reihe, The Long Day Closes, enthält so viele poetische, fast versöhnliche Augenblicke, dass man glauben könnte, Davies arbeite mit einer grossen Waage, auf der Schönheit und Grausamkeit immer wieder gegeneinander aufgewogen werden.
Von seiner eigenen Geschichte kommt Terence Davies nicht los. Er wählt nur neue Ausdrucksformen, etwa in dem Dokumentarfilm Of Time and the City (2008), der ein sardonisches Porträt seiner Heimatstadt Liverpool zeichnet. Auch in der Literatur sucht er nach passenden Stoffen. Nach dem Ende des autobiografischen Zyklus unternahm er mit The Neon Bible (1995) und The House of Mirth (2000) zwei Romanverfilmungen, von denen die zweite als Meisterwerk gilt. Selbst namhafte Regisseure haben sich in einem schwachen Moment vom Reiz versunkener gesellschaftlicher Etikette, von rauschenden Damenkleidern und der Erlesenheit mondäner Schauplätze zum Kinokitsch verführen lassen. Terence Davies dagegen bewahrt das erbarmungslose Sittenporträt der reichen New Yorker Gesellschaft um 1900 aus Edith Whartons Roman «The House of Mirth», weil seine Kamera dem Formalismus, in dem die verarmte und gedemütigte Lily Bart langsam erstickt, eine neue Poesie abgewinnt. Alle Geräusche verstummen, ausser der tickenden Uhr. Noch nie hat man Flure, Fenster, Möbel so schweigen hören wie in diesem Film.
Singend von sich selbst sprechen
Das erfordert die passende Musik. Terence Davies setzt sie ein wie ein Komponist, mit blendendem Gespür für Timing, Kontraste und Ironien. «Die Musik ist immer schon da, wenn ich das Drehbuch schreibe», sagt er. Und weil sie klug ausgewählt ist, kann er es sich erlauben, sie als vielschichtigen Kommentar zu benutzen. «Früher», erzählt er, «hiess es bei den Budgetverhandlungen: Hier ist ein Posten für die Komposition der Filmmusik. Und ich sagte: ‹Nein. Ich weiss, welche Musik ich will. Bitte, lassen Sie mich die Musik auswählen.› Ich weiss es wirklich, für jede einzelne Szene. Und wenn ich eine Musik nicht bekommen kann, weiss ich, was die Alternative wäre.»
Terence Davies wuchs mit amerikanischen Musicals auf. Singin' in the Rain gehört zu seinen Lieblingsfilmen. Ein Frauengenre, wie man damals sagte, aber für ihn war es ein Bezugssystem. Deshalb wird in seinen autobiografischen Filmen so viel gesungen. Minutenlang bleibt die Kamera auf dem Gesicht der Singenden. «Natürlich nehmen die Lieder nichts weg von der Brutalität, die uns angetan wurde. Dennoch wirkt Musik heilsam. Frauen aus Nordengland sind so. Sie sind stark, lebenstüchtig, haben Humor und singen. Weder den Frauen noch mir war damals klar, dass sie durch Lieder ihre Gefühle ausdrückten. Das Singen gab ihnen eine Form, von sich selbst zu sprechen, ohne zu persönlich zu werden. Dasselbe geschieht, wenn Sie einen bedeutenden Dichter lesen: Sie wissen sofort, dass seine Zeilen aus innerer Qual entstanden sind. Und wenn diese Zeilen das Leid schon nicht zum Verschwinden bringen können, so machen sie es wenigstens erträglich. Lesen Sie die Gedichte von Emily Dickinson. In der Musik geschieht etwas Ähnliches. Künstler wählen verschiedene Routen und erreichen dasselbe Ziel: Ausdruck von Schmerz.»
Für Terence Davies sind alle Ehrungen und Retrospektiven relativ. «Mein Selbstvertrauen», sagt er, «wurde mir aus dem Leib geprügelt, als ich klein war.» Das späte Lob, wenn es denn kommt, kann nicht die Selbstachtung ersetzen, die dem Regisseur genommen wurde und von der sein Werk sich nährt. Sein Privatleben nennt er langweilig: «Wenn ich nicht schreibe, lese ich. Ich höre Musik und lese Gedichte. Auf andere Menschen wirkt das wahrscheinlich öde. Wie gern wäre ich ein Rebell gewesen! Ich will es immer noch.»
Paul Ingendaay
Paul Ingendaay ist Schriftsteller und Literaturwissenschaftler und lebt seit 1998 als Kultur-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Madrid. Den vorliegenden Artikel, der auf einem langen Gespräch mit Davies basiert und am 21.7.2010 in der FAZ erschienen ist, hat der Autor für uns überarbeitet.