Theo Angelopoulos: «Die Zeit – das sind wir»
Ende Januar ist Theo Angelopoulos durch einen tödlichen Unfall aus den Dreharbeiten zum Schlussteil seiner neuen Trilogie herausgerissen worden. Die vom Filmpodium als Begegnung mit dem Regisseur geplante Filmreihe wird nun zum Rückblick auf das Werk einer der markantesten Figuren des europäischen Autorenfilms.
In seinem Festivalbericht aus Cannes schrieb der Filmjournalist Bruno Jaeggi 1975 über Die Wanderschauspieler (O Thiasos) von Theo Angelopoulos, die grosse Entdeckung in der Quinzaine des Réalisateurs: «ein Datum in der Geschichte des Films». Sight & Sound bezeichnete den Film in seiner Februar-Ausgabe in einem noch zu Angelopoulos’ Lebzeiten verfassten Text als «colossal geopolitical masterwork».
Welche Eigenschaften haben diesem Film, der sich damals wie heute den gängigen Seherwartungen entgegenstellt, so viel anhaltenden und beim Wiedersehen noch wachsenden Respekt verschafft, ja Begeisterung und Bewunderung ausgelöst? Seine thematische Verankerung in der neueren griechischen Geschichte kann es so wenig sein wie die im Zentrum des Films stehende Tourneetheatertruppe mit ihrem ausserhalb Griechenlands unbekannten Hirtendrama «Golfo, die Schäferin», und schon gar nicht die unser Zeitbudget strapazierende Gesamtlänge von fast vier Stunden.
Tatsächlich liegt die Schwierigkeit beim Schreiben über Die Wanderschauspieler – an dem sich Angelopoulos' Universum und Stil exemplarisch darstellen lassen – darin, dass fast jedes Element, isoliert man es zum Zweck der näheren Betrachtung aus seinem lebendigen filmischen Kontext, abschreckend wirken kann. Das hat manche Autoren dazu verführt, über Angelopoulos wenig konkret, vielmehr in mystisch-vagen Begriffen und beweihräuchernden Superlativen zu schreiben. Diesem Filmemacher, der so genau wusste, was er wollte und wie er es machte, entspricht dies jedoch in keiner Weise. Jeder zelebrierte Geniekult steht in eklatantem Kontrast zur nüchternen, bei aller Dezidiertheit bescheidenen und manchmal sogar leicht selbstironischen Weise, in der Angelopoulos selbst über seine Filme zu sprechen pflegte.
Dialektik von Intensität und Distanz
Was an Angelopoulos beeindruckt und, lässt man sich erst einmal darauf ein, für ihn einnimmt, ist die radikale Konsequenz, mit der er seinen Blick auf die Menschen und ihren Alltag – von der Liebe bis zum Verrat –, sein Zeitempfinden und seine Konzeption des Kinos in eine filmische Form bringt, wie er die individuellen Geschichten mit dem Historischen verknüpft. Dies keineswegs in einer vordergründig-aufdringlichen Weise. Nicht nur aus Zensurgründen (die ersten beiden langen Spielfilme entstanden noch unter der Militärdiktatur, Die Wanderschauspieler wurde vor deren Ende konzipiert) hat Angelopoulos seine politischen Positionen lediglich indirekt einfliessen lassen, es war ihm immer wichtiger, die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Nachdenken zu veranlassen.
Angelopoulos rückt den handelnden Personen mit seiner Kamera nie zu nahe, er verzichtet auf die gängigen Nah- und Grossaufnahmen. Sein Realismus in der Schilderung macht seine Figuren nie klein, doch ihre Grösse bedarf nicht der Vergrösserung durch das Kameraobjektiv. Angelopoulos verweigert uns die einfache, gefühlsmässige Identifikation. Er erzählt seine Geschichten so, dass wir auf Distanz bleiben und uns selbst einen Reim darauf machen müssen. Das ist so trocken nicht, wie man meinen könnte. Es schliesst ästhetische Highlights, dezidierte Parteinahme, starke emotionale Momente und Passagen von unsentimentaler Poesie ein, aber es stellt höhere Ansprüche an die Zuschauenden. Die realistisch geschilderten Alltagsszenen von Die Wanderschauspieler bekommen allein schon durch die Namen der Hauptpersonen einen Hauch von griechischer Tragödie.
Wenn Angelopoulos zeigt, wie seine Figuren den Wechselfällen der Zeitläufe ausgeliefert sind, wie schlimm ihnen diese zusetzen, dann schildert er dies ohne psychologisierendes Mitleid-Heischen, und doch fühlen wir: Er leidet mit ihnen. Gerade die ungeschönte, weder dramatisierende noch verklärende Darstellung des Leids wird elementar ergreifend, auszuhalten wohl nur dank der vom Regisseur gewahrten Distanz. So verwendet er auch die Musik in den stärksten Momenten nicht emotional illustrativ, sondern als Kontrapunkt: Die fröhliche Musik, die aus einem Tanzlokal herüberklingt, wirkt zunehmend makaber, wenn sie in schreiendem Kontrast zum sich draussen abspielenden Drama steht.
Fliessender Umgang mit Raum und Zeit
Der lange Atem von Angelopoulos' viel zitierten eine ganze Sequenz andauernden Einstellungen, den «plans-séquences», lässt uns Zeit, den Ort und die Zeit zu erkennen, signifikante Details zu entdecken und die emotionale Tragweite der Situation zu erfassen. Dinge, die auf dem Weg der Figuren fast beiläufig erfasst werden, erweisen sich plötzlich als die Hauptsache. Die kreisenden Schwenks lassen uns fliessend von der Sicht auf die Figur zu dem wechseln, was diese Figur sieht, und wieder zurück: Was uns widerfährt und was wir sind, ist untrennbar. Eine «lange» Einstellung kann letztlich sogar eine extreme Verknappung sein, etwa wenn wir mit den Wanderschauspielern das politische Geschehen im durch einen Strassenzug gebildeten Ausschnitt sehen: wie die Rechten die nach dem Kriegsende triumphierenden Linken zurückdrängen, die Linken dann doch wieder vorstossen und schliesslich von den britischen Truppen in die Flucht geschlagen werden. Unaufwendig inszeniert (zwischendurch blicken wir nur auf einen leeren Platz und hören die Kämpfe im Off), wird hier das historische Hin und Her zu filmischer Verdichtung gebracht.
Überhaupt dient die filmische Form bei Angelopoulos strikt dem Auszudrückenden. Die nur auf den ersten Blick verwirrenden Zeitsprünge bilden – wie schon in seinem Spielfilmerstling Die Rekonstruktion – die Einheit ab, als die Angelopoulos Vergangenes und Gegenwärtiges sieht. So erscheint es auch logisch, dass in Die Wanderschauspieler der Wechsel der Zeitebenen nicht unbedingt durch einen Schnitt markiert wird (wie es der filmischen Konvention entspricht); er kann auch innerhalb einer Einstellung, in einem Schwenk oder einer Kamerafahrt erfolgen.
Die Kritiker haben so viel über diese Kühnheit geschrieben, dass darüber fast übersehen wurde, wie weitgehend geradlinig die zeitliche Struktur dieses Films doch ist. Zwar vertauscht Angelopoulos die beiden ähnlich inszenierten Ankunftsszenen am Bahnhof des Provinzstädtchens Ägion, die den zeitlichen Rahmen des Films abstecken: Er zeigt uns zu Beginn des Films die Ankunft im Jahr 1952, am Schluss jene des Jahres 1939. Dazwischen aber erzählt er die Geschichte der Schauspieltruppe weitgehend chronologisch. Nur zweimal springt er für wenige Minuten ins Jahr 1952 und dann wieder zurück. Da er dies tut, um die Kontinuität der historischen Entwicklung evident zu machen, sind diese Sprünge leicht nachvollziehbar. So versteht man selbst als Nichtgrieche problemlos, warum Angelopoulos die Gruppe der Faschisten und Monarchisten, die soeben den Neujahrstag 1946 gefeiert haben, ungebrochen, ihre blutrünstigen Lieder singend, in einer durchgehenden Kamerafahrt mit der Wahlpropaganda des Marschalls Papagos ins Jahr 1952 marschieren lässt.
Konsequent auch im Erfolg
Der am 27. April 1935 in Athen geborene Thodoros Angelopoulos, der sich seit seiner Studienzeit an der Pariser Filmhochschule IDHEC im Ausland Theo nannte, hat die in seinen ersten beiden Spielfilmen langsam entwickelten Wesenszüge und Stilmittel in Die Wanderschauspieler zu einem fulminanten ersten Höhepunkt gesteigert. Der Film trug ihm internationale Anerkennung ein und legte die Basis zu seinem späteren Werk. In diesem entwickelte er seine unverwechselbare filmische Ausdrucksweise weiter, führte manches in Die Wanderschauspieler Angelegte zu bravouröser Perfektion, glättete umgekehrt auch manche Ecken und Kanten seiner Radikalität.
Das Ende der Militärdiktatur 1974 erlaubte es Angelopoulos, sich später auch direkt mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, die Entwicklung der Zeitläufe im Präsens zu reflektieren. Sein Erfolg öffnete ihm die Türen zu internationalen Koproduktionen, zu grösseren Budgets und sogar Starbesetzungen. Damit nahm wohl unvermeidlich auch der Druck zu, sich den Sehgewohnheiten des Kinopublikums stärker anzupassen. So bringt in späteren Filmen die Kamera tendenziell die handelnden Figuren etwas grösser ins Bild, ohne dass Angelopoulos je dazu übergegangen wäre, in einer Montage à la Hollywood auf Grossaufnahmen zu schneiden.
Es wäre müssig, das radikale eigensinnige Frühwerk gegen das stärker auf internationale Verständlichkeit ausgerichtete spätere Werk auszuspielen. Im einen wie im andern zeigt sich die unverwechselbare Handschrift Angelopoulos' und sein grosses Engagement, jenseits der Kinokonfektion zu menschlich Wesentlichem vorzudringen.
Martin Girod