Emir Kusturica: Tito und dem Teufel vom Karren gefallen
Als «pro-serbischer Jugoslawien-Nostalgiker» und «Fellini des Balkans» musste sich Emir Kusturica seit den mittleren neunziger Jahren Etikettierungen gefallen lassen, die er ablehnt, aber mitzuverantworten hat. Die Polemiken um den notorischen Provokateur verdecken ein Stück weit das grandios barocke Werk, das Kusturica mit Filmen wie Papa ist auf Dienstreise, Time of the Gypsies und Underground dem Spätkommunismus, der Romakultur und dem Zerfall des Vielvölkerstaats abgetrotzt hat.
Wer ist Emir Kusturica? Ein jugoslawischer und bosnischer, seit dem Zerfall der jugoslawischen Republik ein serbischer Regisseur, ein Rocker aus Sarajevo, Absolvent der berühmten Prager Filmhochschule FAMU, zweimaliger Gewinner der Goldenen Palme, Gründer eines Filmfestivals und eines eigenen Dorfes, Schauspieler und Buchautor, ein Balkan-Star und Provokateur, der mit seinen Äusserungen zu Politik und Religion regional wie international polarisiert ... Kaum ein anderer Autor des zeitgenössischen Kinos ist schärfer angegriffen und hemmungsloser verklärt worden. Auf alle Fälle gehört Kusturica zu den wichtigsten Vertreter des Autorenkinos seit 1980.
Das westliche Publikum kennt vor allem Time of the Gypsies (1988) und Arizona Dream (1992) sowie die späten, folkloristisch-exotischen Filmen in Comic- und Märchen-Manier (Chat noir, chat blanc, 1998; Life Is a Miracle, 2004; Promise Me This, 2007), in denen Kusturica, unterstützt von mitreissender Roma- und Balkanmusik, die gängigen Klischees der Balkan-Exotik auf die Spitze treibt: In einem endlosen Taumel wird gelacht und geweint, gefeiert, getrunken, getanzt und geliebt, geboren, geschossen, gestorben.
Ein explosives Frühwerk
Die umfassende Retrospektive des Filmpodiums bietet Gelegenheit, am Mythos Kusturica zu kratzen und neue filmische und ideologische Entdeckungen zu machen. Tatsache ist, dass die späten Filme Kusturicas häufig die frühen verdecken: Die Diplomarbeit Guernica (1978), die Fernsehfilme Die Bräute kommen (1978) und Buffet Titanic (1979) sowie die zwei Meisterwerke Do You Remember Dolly Bell? (1981) und Papa ist auf Dienstreise (1985). In ihren Ausdrucksmitteln weniger üppig und laut, mit einer geschlossenen epischen Erzählstruktur, sprühen diese Filme vor Lebenskraft. Eingebettet in den jugoslawischen historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs, der frühen 1950er Jahre mit ihren antistalinistischen Säuberungen und der 1960er mit Titos «drittem Weg» zwischen Ost- und Westblock üben sie Kritik an der sozialistischen Gesellschaft: Bildhaft steht der Mikrokosmos der patriarchalen Familienstrukturen für die Anomalien des gesamten kommunistischen Systems, die mit den Augen von Aussenseitern und jugendlichen Helden gesehen und entlarvt werden. Mit Ironie und schwarzem Humor in der Manier des magischen Realismus ermöglicht Kusturica seinen Protagonisten hier, der sozialistischen Realität zu entfliehen und sich im Prozess des Erwachsenwerdens von Vaterfiguren zu lösen. Es ist kein Zufall, dass sich Jugoslawien in dieser Frühphase des Regisseurs gerade neu zu orientieren versuchte, nachdem der «Übervater der Nationen» 1980 verstorben war.
Kusturicas Frühwerke stehen thematisch und ästhetisch in engem Zusammenhang mit der Sarajevoer Truppe «Topliste der Surrealisten», deren satirische Radio- und Fernsehshow im Monty-Python-Stil um die nationale und kulturelle Vielfalt Sarajevos sowie ganz Jugoslawiens kreiste. Den antinationalistisch und multikulturell orientierten Surrealisten gelang es, die gängigen Stereotype über den einfachen Bosnier nachzuzeichnen und durch komisch-surreale Effekte zu brechen. Auf ähnliche Weise bieten Kusturicas erste Spielfilme einen Einblick in das Alltagsleben der «kleinen Leute» der Tito-Zeit. Die ethnische Zugehörigkeit der Helden – die wie Kusturica selbst bosnisch-muslimischen Familien entstammen – ist im Vergleich zu ihrer jugoslawisch-kommunistischen Orientierung hier immer sekundär.
Ein Scharnier zwischen Kusturicas Früh- und Spätwerk stellt der in Cannes prämierte Film Underground (1995) dar, der just vor Ende des Bosnienkriegs herauskam. Diese Parabel über fünfzig Jahre jugoslawischer Geschichte beschwor die gemeinsame Vergangenheit des Vielvölkerstaates, setzte der Idee des Übernationalen aber auch erstmals eine nationale Ikonografie und ein serbozentrisch gedachtes Jugoslawentum entgegen.
Tatjana Simeunović
Tatjana Simeunović arbeitet als Dozentin für Kroatisch/Serbisch und Film am Slawischen Seminar der Universität Basel.