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Stephen Frears: Ein Anverwandlungskünstler

Stephen Frears (*1941) kam in den 1960er Jahren über das Theater zum Film und war Regieassistent von Karel Reisz und Lindsay Anderson. Nach mehreren Jahren beim Fernsehen der BBC brachte ihm 1985 My Beautiful Laundrette den Durchbruch und machte ihn zu einem der Mitbegründer des «New British Cinema». Seither hat sich Frears an beinahe allen klassischen Genres versucht und seinen Blick immer wieder in unterschiedliche Epochen und Milieus versenkt. Wir zeigen 15 Filme zwischen Western, Films noirs, Kostümdramen und Familienkomödien – «kleine», persönliche Werke ebenso wie Hochglanzproduktionen. Auf Festivals hat man bisweilen das Vergnügen, den Briten Stephen Frears nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Kinogänger zu erleben. Als 1999 auf der Berlinale sein Film The Hi-Lo Country im Wettbewerb lief, sass ich einmal zwei Reihen hinter ihm. Er nahm einen Platz am Rand ein, den er notfalls früher verlassen konnte, ohne andere Zuschauer zu belästigen. Anscheinend hatte er seine PR-Pflichten erfüllt und nun Zeit, in die Galavorführung von Porgy and Bess zu gehen. Der Film lief im Rahmen einer Otto-Preminger-Retrospektive. Gezeigt wurde eine 70-mm-Kopie, deren einziger Makel darin bestand, dass es die deutsche Synchronfassung war.
Der Pressebetreuer vom Filmverleih, der neben ihm sass, wurde bald unruhig. Doch Frears wollte bleiben. Dass er die Dialoge nicht verstand, störte ihn offenkundig nicht. Hegte er eine besondere Wertschätzung für Preminger? Dessen Vielseitigkeit zumindest mochte er sich nahe fühlen. Oder genoss er einfach das prachtvolle Schauspiel auf der grossen Leinwand? Das war von meinem Platz aus natürlich schlecht einzuschätzen. Aber es bereitete mir grosse Genugtuung, dass Frears heroisch lange aushielt, bis er schliesslich dem Drängen seines Betreuers nachgab.
Für einen ausgesprochen cinephilen Regisseur hatte ich ihn bis zu diesem Zeitpunkt nicht gehalten; und auf keinen Fall für einen, der derart von der Filmgeschichte besessen ist wie Martin Scorsese, der Co-Produzent seines damaligen Wettbewerbsbeitrags. Andererseits hatte The Hi-Lo Country einen bemerkenswerten cineastischen Stammbaum: Er beruht auf einem Roman, den Sam Peckinpah bereits seit 1965 verfilmen wollte.

Mit kühlem Kopf und fester Crew
Dass Frears in jenem Jahr den Silbernen Bären als bester Regisseur gewann, war eine überraschende, gleichwohl triftige Entscheidung der Jury. Er betrachtet die Regie als eine Disziplin unter anderen, die es im Filmgeschäft zu beherrschen gilt. Schon seine ersten beiden Kinofilme, der ironisch-nostalgische, mit Filmzitaten prunkende Detektivfilm Gumshoe und der lyrische Gangsterfilm The Hit, verraten seine Lust, bei der Inszenierung unterschiedliche Muskelpartien zu trainieren. Die Frage nach der Professionalität spielt in beiden eine bezeichnende Rolle. Nicht von ungefähr engagierten ihn CBS und George Clooney im Jahr 2000 für das verwegene Experiment, zum ersten Mal nach vier Jahrzehnten ein Live-Fernsehspiel zu inszenieren: Bei Frears konnten sie gewiss sein, dass er angesichts dieser nervenaufreibenden Herausforderung einen kühlen Kopf bewahren und genaue Vorstellungen davon haben würde, wie er die Szenen auflösen muss. Dieser Regisseur hat sich an beinahe allen klassischen Genres versucht. Einzig die Spielarten des Fantastischen, der Science Fiction und des Horrorfilms (Mary Reilly betrachtet den «Dr. Jekyll & Mr. Hyde»-Mythos aus bemerkenswert aufgeklärter Perspektive) haben ihn bislang noch nicht gereizt.
Anders als seine Landsleute Mike Leigh, Ken Loach oder Nicolas Roeg hat er sein Œuvre nicht thematisch oder ästhetisch konturiert. Er ist kein auteur im landläufigen Sinne. Gewiss, es gibt inhaltliche Querverbindungen in seiner Filmografie. Seit Gumshoe erzählt er gerne von ungleichen Brüdern oder Freunden. Betrug und Verrat bedrohen oft die menschlichen Beziehungen. Gelegentlich filmt er Dreiecksgeschichten, die tragisch enden. In einem Strang seines Werks, der sich von Prick Up Your Ears über The Queen bis zu Mrs. Henderson Presents erstreckt, manifestiert sich eine sehr britische Reflexion über das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit und die Frage nach dem Skandalösen. Frears' persönliche Handschrift verdankt sich nicht seiner Mitarbeit an den Drehbüchern. Er weiss vielmehr das Talent von Autoren wie Hanif Kureishi, Alan Bennett, Christopher Hampton und Peter Morgan zu schätzen – ein Respekt, der gewiss noch aus seinen Lehrjahren beim britischen Fernsehen stammt – und will ihm gerecht werden. Dementsprechend sind die motivischen Korrespondenzen im Werk seiner Szenaristen weit offensichtlicher als in seinem eigenen: Hero verrät ein ähnliches Erzählinteresse an moralischen Ambivalenzen und Kehrtwendungen wie David Webb Peoples' Drehbuch zu Unforgiven; Dirty Pretty Things erkundet ebenso wie Steven Knights Buch zu Eastern Promises Parallelgesellschaften im zeitgenössischen London.
Gleichwohl hinterlässt sein Erzähltemperament stets mehr als nur ein Wasserzeichen in den Filmen. Eine Urheberschaft an den Büchern will er nicht für sich reklamieren, weil er weiss, dass seine Regiearbeit noch eine andere Dimension schafft: durch seine Haltung zu den Charakteren, durch Rhythmus und Tempo, durch die Evidenz seiner Bildkompositionen und die pragmatische Eleganz der Kamerabewegungen. Frears ist der Kapitän eines Teams; sein Werk weist Kontinuität vor allem in seinem Mitarbeiterstab auf: Mick Audsley hat den Grossteil seiner Filme geschnitten, regelmässig führt Oliver Stapleton für ihn die Kamera, Alexandre Desplat ist seit einigen Jahren sein ständiger Komponist.

Visitenkarten statt Bewerbungsschreiben
Frears’ Neugierde ist umfassender, ausgreifender, als es der traditionelle Autorenbegriff vorsieht. Er will sich mit unterschiedlichen Kulturen beschäftigen (die er mitunter direkt vor der eigenen Haustür vorfindet: Im Thriller Dirty Pretty Things treten fast nur illegale Einwanderer auf); er sucht die Begegnung mit dem, was er noch nicht kennt. Immer wieder versenkt er seinen Blick in unterschiedliche Epochen und Milieus. Kaum je arbeitet er mehr als einmal mit einem Schauspieler zusammen; wobei er staunenswert viele Darstellerinnen zu Oscar-Nominierungen geführt hat.
Natürlich musste es jemanden wie ihn irgendwann einmal nach Hollywood verschlagen. Das Sympathische an Frears ist allerdings, dass jene Filme, die das Interesse der grossen Studios an ihm weckten, überhaupt nicht wie Bewerbungsschreiben wirken: My Beautiful Laundrette, Prick Up Your Ears und Sammy and Rosie Get Laid sind im Gegenteil stolze Visitenkarten einer britischen Sensibilität, sind tief verwurzelt in der sozialen und kulturellen Realität seiner Heimat. Sein erster US-Film, Dangerous Liaisons, fungiert als Scharnier; seine Vorstellungen von Sittlichkeit und Verführung entsprechen noch europäischer Weltläufigkeit. In Hollywood hat er nicht immer die glücklichsten Erfahrungen gemacht. Frears gehört zu den wenigen Regisseuren, die sich darüber beklagen, dass die Budgets der Filme zu hoch, zu verschwenderisch sind. Aus Mary Reilly hat er dennoch ein Kammerspiel gemacht.
In Hollywood musste er nicht zu einem Studioregisseur werden, sondern durfte sich die achtsame Schaulust des Fremden bewahren. Er besitzt die Gabe, sich zu verankern. Man betrachte nur einmal, wie mühelos er Nick Hornbys High Fidelity von London nach Chicago umgesiedelt hat. Darin zeigt sich nicht nur Geschmeidigkeit, sondern auch Geistesgegenwart. Sein Blick ist konzentriert. Andernfalls wäre The Grifters gewiss nicht zur besten aller Jim-Thompson-Verfilmungen geworden und zum grossartigsten Neo-Film-noir seit Chinatown.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin und hat für das Filmpodium u. a. über «Dickens on Film» geschrieben.