Ken Loach
Unbequem und notwendig
Sie sind keine «Working Class Heroes», die Figuren in den Filmen von Ken Loach (*1936). Als «Traumwandler im Überlebenskampf» wurden sie beschrieben, seine Antihelden, Menschen, die schlicht versuchen, das Leben zu meistern – oft am Rand der britischen Gesellschaft. Engagiert und liebevoll nimmt Loach daran Anteil, weist auf die Ursachen des Elends hin und ergreift Partei: Auch wenn seine Figuren auf Abwege geraten, er hält ihnen die Stange.
Nun geht also auch er von der Fahne. Wenn die Gerüchte stimmen, wird Jimmy's Hall sein letzter Spielfilm sein. Wie gerade erst Steven Soderbergh und davor Béla Tarr will nun auch Ken Loach dem Kino den Rücken kehren. Im Gegensatz zu den beiden hat Loach zwar ein Alter erreicht, in dem diese Entscheidung nicht überraschend ist. Aber sagte er nicht einmal, dass Filmemacher nicht in Rente, sondern allenfalls stempeln gehen?
Dem Vernehmen nach will sich Ken Loach fortan ganz dem Dokumentarfilm widmen. The Spirit of '45 zeigt zwar, dass dies ein prächtiger Trost sein könnte. Aber eben nur ein Trost. Auf den Fleiss und auf die Erregbarkeit dieses Regisseurs war stets Verlass. Mindestens zwei Generationen von Kinogängern ist er nun schon ein beständiger Begleiter. Das Publikum hielt ihm die Treue, weil sein moralisches Rüstzeug intakt und seine Empörung über die gesellschaftlichen Zustände ebenso aufrichtig waren wie seine Zuneigung zu den Figuren. Fast jedes Jahr kam ein Film von ihm heraus; nur in den 1980ern verdammten ihn Klima und Zensur der Thatcher-Ära zum Schweigen. Danach durfte man sich wieder der Gewissheit anvertrauen, dass er jeden Herbst im Schneideraum verbringen würde, um mit seinem treuen Cutter Jonathan Morris den Film zu montieren, den er im Sommer gedreht hatte. Bei Jimmy's Hall fehlte ihm jedoch, der Digitalisierung sei es geklagt, das Filmmaterial dazu. Ausgerechnet die Animationsfilmschmiede Pixar musste ihm zu Hilfe eilen.
Immer wieder zurück zum Start
Ein Unzeitgemässer war er immer. Ob die Konservativen oder die Labour Party an der Macht waren, stets blieb Ken Loach ein Stachel im Fleisch der politischen Verharrungskräfte. Die politische Klasse und auch die Kritik hätten mitunter gern auf ihn verzichtet. Ohne europäische Koproduzenten und die Unterstützung des französischen Bezahlsenders Canal plus hätte er einen Grossteil seiner Projekte nicht realisieren können. Sein Kollege Stephen Frears vermutet, er sei es nun schlicht leid, bei der Finanzierung jedes neuen Films wieder am Fuss der Leiter beginnen zu müssen. Dabei waren seine Filme keineswegs nur Kassengift. Sie feierten, angefangen mit Kes, beachtliche Publikumserfolge. The Wind That Shakes the Barley, sein Drama über die Unruhen in Irland zu Beginn der 1920er Jahre, war sogar ein veritabler Hit.
Ist es nicht wunderbar, dass er trotz aller Widerstände nicht anders konnte, als weiterzumachen? Vielleicht gilt für ihn, was Federico Fellini einst über seinen Kollegen Francesco Rosi sagte: «Fabelhaft, dass es ihn gibt, denn er entlastet mich.» Loach verfilmt Stoffe, die unbequem und notwendig sind, und um die andere Regisseure gern einen grossen Bogen machen. Er greift soziale und politische Missstände auf, widmet sich der existenziellen Not derjenigen, die am Rand der Gesellschaft stehen, und doch deren Mehrheit ausmachen. Er scheut sich nicht, in der drangvollen Enge ihrer Wohnungen zu filmen. Loach verleiht den Schicksalen hinter den politischen Entscheidungen ein Gesicht und eine Stimme. In The Navigators beispielsweise untersucht er die Auswirkungen der Privatisierung der britischen Eisenbahn, die ehemalige Kollegen zu Konkurrenten macht. Selbst wenn Loach historische Stoffe aufgreift, folgt er nicht der Nostalgie, einem Grundimpuls des britischen Kinos. Er fragt sich vielmehr, was eine Geschichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder dem Nordirland-Konflikt uns über die Gegenwart erzählen kann.
Die Besetzung seiner Filme findet er nur selten mit Hilfe von Casting-Agenten. Er sucht sie lieber auf dem Sozialamt. Seine Darsteller, auch wenn sie keine Laien, sondern Profis sind, beglaubigen die Milieusicherheit seiner Filme. Sie sind tief verwurzelt in der Region, in der sie spielen. Kaum ein Regisseur ist so schwer zu synchronisieren wie Loach. In den USA müssen seine Filme wegen ihrer regionalen Dialekte mit englischen Untertiteln vorgeführt werden. In The Wind That Shakes the Barley wird ein Ire von den englischen Besatzern getötet, weil er seinen Namen gälisch ausspricht. Die Heldin von Ae Fond Kiss … war im Drehbuch eine Schottin. Aber die irischstämmige Darstellerin Eva Birthistle war beim Vorsprechen so überzeugend, dass die Dialoge umgeschrieben wurden, um ihnen eine andere Sprachmelodie zu geben.
Loach selbst ist ein Kind der Arbeiterklasse. 1936 wurde er in Nuneaton in Warwickshire als Sohn eines Elektrikers geboren. In Oxford studierte er Jura, verlor jedoch bald das Interesse daran, als er das experimentelle Theater entdeckte. Er trat als Schauspieler auf und durchlief bei der BBC eine fruchtbare Lehre. Seine TV-Dramen und Dokumentationen erregten Mitte der 1960er Jahre grosses Aufsehen. Diese zwei Schulen vereint er in seinen Filmen. «Fact and Fiction» ist in einer Schlüsselszene von Kes an einer Tafel zu lesen. Während der Unterrichtsstunde erlebt der Held, ein aufgeweckter und gleichzeitig verträumter Schüler, seinen grossen Triumph: Er soll eine wahre Geschichte erzählen, von der er glaubt, dass sie seine Klassenkameraden interessiert. Also berichtet er von seiner Liebe zur Falknerei und schreibt mit sicherer Hand Fachbegriffe an die Tafel, die nicht einmal sein Lehrer kennt. Um Lernprozesse geht es fortan regelmässig in seinen Filmen. Ken Loach ist ein Vermittler, aber kein Vereinfacher. Er entlässt seine Drehbuchautoren, etwa Jim Allen oder Paul Laverty, nicht aus der Verantwortung, expositorische Dialoge zu schreiben, in denen Arbeitsprozesse oder das Funktionieren der Bürokratie erklärt werden.
Der lyrische Mehrwert
Loach ist kein Leitartikler des Kinos. Vielmehr übersetzt er die thematische Dringlichkeit seiner Stoffe stilsicher in eine dramaturgische Wucht. Er sucht den exemplarischen Konflikt, den Moment, in dem ein Dilemma entsteht und sich Widerstand regt. Der Druck, der auf Loachs Figuren lastet, ist ungeheuer. Und jederzeit ist es wahrscheinlich, dass die Schraube des Unglücks noch eine Drehung weiter angezogen wird. Für die entstandenen Probleme gibt es am Szenenende nie eine Lösung; die muss sich erst später finden.
Verständnis bringt Loach seinen Charakteren auch dann entgegen, wenn sie jenseits von Vernunft und Legalität handeln – wie beispielsweise der stolze, arbeitslose Vater aus Raining Stones, der um jeden Preis das Kommunionskleid seiner Tochter selbst bezahlen will: Wenn sich die Verhältnisse gegen dich verschwören, musst du dich eben auch gegen sie verschwören. Kein Film, der nicht eine Hymne auf die Solidarität wäre. Selbst mit den Bösewichten geht dieser Regisseur fair um.
Zusehends parieren seine Figuren ihr Schicksal mit robustem Humor. Auch darin ist er Realist. Er verweigert sich den sentimentalen Tröstungen – eine gerechtere Welt ist in seinen Filmen nicht versprochen, aber der Kampf für sie unabdingbar –, verschliesst jedoch auch nie die Augen vor der Schönheit, die trotz aller Härte des Lebens aufscheinen kann. Seine Kameraleute Chris Menges und Barry Ackroyd sind empfänglich für die Anmut eines Lichteinfalls oder einer Landschaft. Die Partituren, die Stewart Copeland und George Fenton für ihn komponieren, signalisieren den Zuschauern nicht, was sie in der jeweiligen Szene fühlen sollen. Sie schaffen einen lyrischen Mehrwert. Der Kritiker David Thomson ist der Ansicht, es sei leichter, Loachs Filme zu respektieren, als sie zu geniessen. Er irrt sich. In ihrer Erzähldisziplin sind sie Pflicht und Kür zugleich.
Gerhard Midding
Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.