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Schauplatz San Francisco: Die schöne Schwester

Im November 2003 wurde ein «sister city agreement» zwischen Zürich und San Francisco geschlossen. Zum 10-jährigen Jubiläum zeigte die San Francisco Film Society im letzten Herbst eine kleine Reihe von Filmen aus der eigenen Stadt und aus Zürich; nun widmet das Filmpodium der Schwesterstadt eine Reihe von Filmen mit Schauplatz San Francisco. Das Spektrum reicht von der kleinen Romanze über den harten Krimi und das subtile Schwulenporträt bis zum Gruselstreifen. Mehr noch als der materialistische Moloch Los Angeles ist San Francisco zusammen mit der benachbarten Universitätsstadt Berkeley der Inbegriff dessen, was man sich in kultureller Hinsicht unter Kalifornien vorstellt. 1776 von spanischen Missionaren gegründet, fiel die Siedlung nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg an die USA. Kurz darauf setzte der Goldrausch ein, der die Bevölkerung von 900 auf 20 000 hochschnellen liess und San Francisco reich und legendär machte. Doch der Status als Wirtschaftszentrum Kaliforniens währte nicht lange. San Francisco ist zwar nicht auf Sand gebaut, aber auf einer geologischen Verwerfung: 1906 forderte ein heftiges Erdbeben mit anschliessenden Feuersbrünsten gegen 3000 Todesopfer und machte der Stadt beinahe den Garaus; die Katastrophe (bzw. deren Nachspiel) zählt zu den ersten Ereignissen, die von Zeitgenossen filmisch dokumentiert wurden.
Die Stadt wurde wieder aufgebaut, und seit über hundert Jahren nun warten die Bewohner San Franciscos darauf, dass «the Big One» wieder zuschlägt – vielleicht sind sie deshalb so sehr damit beschäftigt, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg gilt die Bay Area als Hort oder gar Brutstätte aller möglichen Gegenkulturen und alternativer Lebensentwürfe. Die Beatniks siedelten sich hier ebenso an wie die Hippie-Kultur und die LSD-Szene; San Francisco wurde zum Mekka für Schwule, und die linksliberale Stadt initiierte im Laufe der Jahrzehnte zahlreich politische Reformen, die auf die übrigen USA und die ganze Welt ausstrahlten.

Kulisse für Krimis und Katastrophen
Als eine der schönsten Städte der USA ist San Francisco auch einer der pittoresksten Schauplätze für Geschichten aller Art: Über 900 Filme und Fernsehserien sind dort gedreht worden. Den Auftakt zur Filmpodium-Reihe macht W. S. Van Dykes San Francisco mit Clark Gable, der als charmant-schuftiger Saloon-Betreiber eine unschuldige Sängerin (Jeanette MacDonald) umwirbt; Spencer Tracy als schlagkräftiger Priester und das Erdbeben von 1906 als Wink Gottes bringen die beiden auf den rechten Weg. Die Spezialeffekte waren bahnbrechend und verewigten das historische Trauma der Stadt auf Zelluloid. Ob diese Vorgeschichte dazu führte, dass in San Francisco knapp vier Jahrzehnte später mit The Towering Inferno ein weiterer wegweisender Katastrophenfilm entstand, darf man sich fragen. Dieses starbestückte Spektakel wirkt heute in den eindrucksvollen Trickaufnahmen des «turmhohen Infernos» wie eine filmische Vorwegnahme von 9/11. Noch apokalyptischer allerdings mutet das Szenario von Philip Kaufmans Invasion of the Body Snatchers an: Die Kapitale der Selbstfindung wird ironischerweise zum Ausgangspunkt für die Ersetzung der Menschen durch ausserirdische Doppelgänger.
Auch das Krimi-Genre kam in San Francisco immer wieder zu Ehren. Im Film noir Out of the Past gönnt Jacques Tourneur dem flüchtigen Paar Jane Greer und Robert Mitchum in der Stadt eine Auszeit, bevor die beiden wieder von der Vergangenheit eingeholt werden. Erinnerung, Einbildung und Wirklichkeit verschwimmen in Hitchcocks Vertigo für den armen James Stewart, dem Kim Novak gleich zweimal den Kopf verdreht. Schon eher auf dem Boden der Realität steht Steve McQueen als Titelheld von Peter Yates' Bullitt, zumindest, bis er auf der Jagd nach Verbrechern im Ford Mustang von den terrassierten Strassen von San Francisco abhebt. Nicht, dass es den USA an eigenen Krimiautoren mangelte, aber Stuart Rosenberg schuf einen der besten amerikanischen Polizeifilme auf der Grundlage eines «Kommissar Beck»-Romans von Maj Sjöwall und Per Wahlöö: In The Laughing Policeman verkörpert Walter Matthau den grummeligen älteren Ermittler, während Bruce Dern als sein schnauzbärtiger, zynischer Kollege sämtliche gesellschaftlichen Randgruppen von San Francisco gegen sich aufbringt.

Schräge Vögel, Beatniks und Stadtheilige
Sonderlinge sind in der «City», wie sie von ihren Bewohnern gerne genannt wird, fast eher die Regel als die Ausnahme. So kurios wie die Figuren in Peter Bogdanovichs Neo-Screwball-Comedy What's Up, Doc? sind allerdings nur wenige: Ryan O'Neal als zerstreuter Wissenschaftler in der typischen Cary-Grant-Rolle prallt auf Barbra Streisand als obdachlose Ulknudel und stolpert gemeinsam mit ihr in eine absurde Spionagegeschichte. Auch die Bewohner der Pension an der Barbary Lane in Armistead Maupins ab 1978 erschienenen Romanserie «Tales of the City» sind schräge Vögel, die sich sowohl in abgedrehte Affären als auch in eine Kriminalgeschichte verstricken. In der kongenialen TV-Adaptation brilliert Olympia Dukakis als sexuell ambivalente Schlummermutter und Laura Linney gibt das Landei, das stellvertretend für den Zuschauer die Gegenwelt von San Francisco kennen und lieben lernt.
Selbst Maupin hätte jedoch Mühe gehabt, eine so schrille Figur zu erfinden wie den Protagonisten des Dokumentarfilms That Man: Peter Berlin: Der deutschstämmige Jüngling, der in den siebziger Jahren in hautengen weissen Hosen mit wuchtigen Wölbungen die Schwulenszene von San Francisco aufheizte, entpuppt sich in Jim Tushinskis Altersporträt als feinfühliger und schüchterner Mensch. Robert Crumb, dem Terry Zwigoff in der Dokumentation Crumb ein ambivalentes Denkmal setzt, hat von den Sixties an mit seinen Underground-Comics die Bürger erschreckt, doch die Welt der verkorksten Familie, aus der er stammt, läuft selbst den Abenteuern von Fritz the Cat den Rang ab. Ebenfalls real ist die Hauptfigur von Gus Van Sants Milk: Harvey Milk setzte sich in den siebziger Jahren als Stadtrat von San Francisco für Reformen ein und gewann die Herzen der Bürger – mit einer fatalen Ausnahme; sein gewaltsamer Tod machte ihn zur Legende.
Kultstatus hatten schon in den fünfziger Jahren die Exponenten der Beat-Bewegung erlangt. In Howl erweisen Rob Epstein und Jeffrey Friedman Allen Ginsberg und seinem revolutionären titelgebenden Gedicht die Ehre und machen einfühlbar, welche Wirkung dieser unzensierte poetische Aufschrei auf die damalige Gesellschaft hatte. Wie ein Gegenbild dazu mutet Michael Polishs Verfilmung von Jack Kerouacs Spätwerk Big Sur an: Des Ruhmes überdrüssig, pendeln der Autor und seine Entourage desorientiert zwischen der Naturidylle der kalifornischen Küste und dem Elend der Säufer- und Drogenszene von San Francisco.
1963 spielt Nancy Savocas Dogfight, in dem River Phoenix als Marineinfanterist auf dem Weg nach Vietnam in San Francisco Station macht und die unscheinbare Rose (Lili Taylor) zu einem chauvinistischen Spiel verleiten will. Wie sehr sich die Geschlechterrollen seither gewandelt haben, zeigt Jason Moores ebenfalls in einer einzigen Nacht angelegte Anti-Romanze I Think It's Raining, deren kratzbürstige Protagonistin Renata die Gefühle ihrer Mitmenschen mit Füssen tritt. Bei aller Weltoffenheit und Toleranz ist auch die Bay Area nicht gegen Rassismus gefeit, wie der Protagonist von Ryan Cooglers Dokudrama Fruitvale Station erfahren muss: Auf dem Heimweg aus San Francisco läuft der junge Schwarze Oscar Grant in Oakland übel gesinnten Polizisten in den Hammer.
Jede Stadt hat ihre Heiligen. Zürich hat die Märtyrer Felix und Regula. Dass San Francisco einst nach Franz von Assisi benannt wurde, kümmert kaum noch jemanden; die City verehrt heute weltlichere Heilige. Zu ihnen zählen Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Harvey Milk, Robert Crumb, Armistead Maupin und – in kleineren Nischen – Peter Berlin und Oscar Grant.
Michel Bodmer