Das erste Jahrhundert des Films: 1945
In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2015 sind Filme von 1915, 1925, 1935 usw. zu sehen.
1945 endet der Zweite Weltkrieg, die Nachkriegszeit beginnt: Mit bescheidensten Mitteln dreht Roberto Rossellini unmittelbar nach der Befreiung von der NS-Besatzung Roma, città aperta, ein eindringliches Drama über die Widerstandskämpfer und deren gnadenlose Unterdrückung, das wir als Reedition zeigen. Dieses Meisterwerk, das nicht nur die Geburtsstunde des italienischen Neorealismus einläutet, sondern auch Anna Magnani zur Ikone des neuen Italiens katapultiert, gilt als kulturelles Vermächtnis der siegreichen «Resistenza». In Brief Encounter klammert David Lean indes den Krieg komplett aus: Seine stimmungsvolle Studie über die Unvereinbarkeit von erotischer Attraktion und gesellschaftlichen Normen ist in den Dreissigerjahren angesiedelt – und bleibt, bei aller Verhaltenheit, eines der unwiderstehlichsten Dramen der Filmgeschichte. Unter schwierigsten Bedingungen entsteht in Frankreich Marcel Carnés legendärer Les enfants du paradis: Die Dreharbeiten beginnen 1943 unter deutscher Okkupation, doch erst am 9. März 1945 wird das melancholische Liebesdrama im befreiten Paris uraufgeführt und feiert einen triumphalen Erfolg. In den USA bringt Billy Wilder in The Lost Weekend die fatale Abwärtsspirale eines trunksüchtigen Schriftstellers auf die Leinwand – mit diesem präzisen, erschütternd authentischen Alkoholikerdrama leistet der österreichische Emigrant in Hollywood Pionierarbeit. Leopold Lindtberg, ein weiterer Emigrant aus Österreich, schafft derweil in der Schweiz mit Die letzte Chance ein Flüchtlingsdrama, das zum ersten internationalen Nachkriegserfolg des schweizerischen Kinos wird und den Mythos vom wohltätigen Asylland Schweiz mitbegründet.
Tanja Hanhart