Hayao Miyazaki
Der Weltenträumer
Das humanistisch grundierte Werk des japanischen Animationskünstlers Hayao Miyazaki gleicht einem in sich geschlossenen Geflecht von Themen und Motiven, die sich in unterschiedlicher Ausprägung durch alle Schaffensphasen ziehen. Zur Aufführung kommen sämtliche Langfilme, bei denen Hayao Miyazaki für die Regie und/oder das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Zwei Titel laufen zusätzlich im «Filmpodium für Kinder».
Hayao Miyazaki ist ein Mann der Widersprüche: Der 1941 geborene Umweltaktivist und dezidierte Pazifist begeistert sich für Kampfflugzeuge, widmete sich als Student der politischen Ökonomie der europäischen Kinderliteratur und arbeitete sich anschliessend in der Animationsindustrie zum Animator und scene designer hoch. Seine Recherchereisen für eine Reihe von TV-Adaptationen europäischer Kinder- und Jugendbuchklassiker führten ihn 1973 unter anderem in die Schweiz, wo er auf der Suche nach Schauplätzen für Isao Takahatas Heidi (1974) Landschaft und Architektur studierte.
Auf diese Recherchen griff Miyazaki auch bei der Gestaltung des fiktiven europäischen Königreichs seines Langfilmdebüts Lupin III: The Castle of Cagliostro (1979) zurück. Bereits hier zeigt sich sein freier Umgang mit dem Ausgangsmaterial. Den aus der Fernsehserie «Lupin III» bekannten Meisterdieb deutete er vom arroganten Millionenerben mit Mercedes zum unbekümmerten Fiat-Fahrer um. Während Miyazaki in dynamischen Autoverfolgungsjagden virtuos mit den Filmsprachen von Cartoon und Realfilm spielt, verweisen überwachsene Häuser und Ruinen im Hintergrund auf eine bewegte Zivilisationsgeschichte.
Die exotischen Fantasiewelten sollen dem Publikum die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen und sozialen Gegenwartsproblemen erleichtern. Miyazaki gelang es so, mit seinem postapokalyptischen Originalstoff Nausicaä of the Valley of the Wind (1984) die Kritik am Umgang des Menschen mit der Natur in eine optimistische Geschichte zu packen, ohne die Natur ihrer Ambivalenz zu berauben. So verbreitet der lebensspendende Wind gleichzeitig giftige Pilzsporen. Selbst im Bewusstsein der tödlichen Bedrohung freut sich die tatkräftige Prinzessin Nausicaä an der Schönheit dieses Naturschauspiels.
Inspiriert von Jonathan Swifts Beschreibung einer fliegenden Stadt lässt Miyazaki in Laputa: Castle in the Sky (1986) seiner kindlichen Faszination für organische Flugmaschinen freien Lauf. Am Beispiel von Robotern, die je nach Auftraggeber als Gärtner oder Killermaschinen agieren, vermittelt Miyazaki seine Überzeugung, dass nie die Technik an sich, sondern einzig ihr Einsatz gut oder schlecht sei.
Intuition macht den guten Erzähler
Auf dieses erste Projekt seines neugegründeten Studios Ghibli folgte 1988 der Kinderfilm My Neighbor Totoro, der zu Miyazakis legendärem Engagement für die Erhaltung des Waldes in Tokio führte. Miyazakis Filme animieren die Natur im wahrsten Sinne des Wortes. Insbesondere Wind und Wetter vermitteln den inneren Zustand der aufgeweckten Protagonistinnen. Demgegenüber sind die Augen der flauschigen Fantasiekreatur Totoro bewusst ausdruckslos gezeichnet, um die Interpretation ihres Verhaltens den Zuschauenden zu überlassen. Miyazaki legt ganz grundsätzlich Wert darauf, dass man die Gesinnung seiner Figuren nicht am Äusseren ablesen kann. Darum sind seine Coming-of-Age-Geschichten höchst selten von Bösewichten motiviert. Eher handeln sie von den kleinen Unsicherheiten im Alltag heranwachsender Mädchen. Wenn etwa die Hexe Kiki in Kiki’s Delivery Service (1989) mit ihrem Selbstvertrauen auch die Fähigkeit zu fliegen verliert, verzichtet die Erzählung auf psychologische Erklärungen und plädiert stattdessen für einen Perspektivenwechsel.
Der alternde Protagonist des Fliegermelodrams Porco Rosso (1992) ist überzeugt, dass nicht Erfahrung, sondern Intuition einen guten Piloten ausmache. Damit erklärt der Autor seine eigene Vorgehensweise beim Erschaffen von Geschichten: Oft lässt er sich den Verlauf der Handlung von den Figuren diktieren, ohne ihr Verhalten rational zu hinterfragen. Diese aus der Vermischung von innerem und äusserem Erleben resultierende Traumlogik erinnert mitunter an Fellinis Spätwerk, dem mit rationalen Erklärungen ebenfalls nicht beizukommen ist.
Meist arbeitete Miyazaki noch während der Produktion eines Films an den chronologisch gezeichneten Storyboards (dem eigentlichen Drehbuch), ohne im Detail zu wissen, wie die Geschichte endet. Der Fokus liegt denn auch weniger auf der äusseren Handlung als auf der Überzeugungskraft von Bildern, die im Zuschauer eine bestimmte Empfindung auslösen. Miyazaki setzt dabei immer wieder auf schwindelerregende Blicke in die Tiefe. Wenn die Figuren nicht fliegen, bewegen sie sich mühelos auf ungesicherten Dächern oder alptraumartigen Abgründen entlang.
Metamorphose als Stilmittel
Sein eigener Tanz am Abgrund wurde dem Workaholic Miyazaki schmerzlich bewusst, als sein langjähriger Mitarbeiter und designierter Nachfolger Yoshifumi Kondo 1998 nach nur einer Regiearbeit, Whisper of the Heart (1995), an einem Aortariss starb, der auf Überarbeitung zurückgeführt wurde. Als Reaktion darauf trat der Regisseur in den Ruhestand, liess sich jedoch ‒ beflügelt vom internationalen Erfolg von Princess Mononoke (1997) ‒ zur Weiterarbeit überreden. Während sich Princess Mononoke mit der zerstörerischen Interdependenz von Mensch und Natur in einem archaisch-mythischen Japan auseinandersetzt, muss sich die kleine Chihiro im Meisterwerk Spirited Away (2001) als Kind unserer Zeit in einer von Gier korrumpierten Parallelwelt bewähren, um ihre in Schweine verwandelten Eltern zu retten. Im Gegensatz zu den meisten Fantasy-Welten im Kino scheinen Miyazakis überbordende Bilder über den Bildrand hinaus zu existieren und regen mit unerklärten Gestalten und Wesen die Fantasie an. Die charakteristische Atmosphäre wird entscheidend von Joe Hisaishis melodiöser Filmmusik geprägt, die mit Variationen wiederkehrender Grundmuster seit Nausicaä Szenen und Figuren der verschiedenen Filme miteinander verbindet.
Anders als die psychologisch abgerundeten Helden gängiger Familienfilme lassen Miyazakis Kreationen oftmals eine definitive Form vermissen, befinden sich teilweise gar in einem permanenten Zustand der Metamorphose. Diese Spezialität des Zeichentrickfilms macht der Japaner zu einem zentralen Stilmittel seines Spätwerks. In Howl’s Moving Castle (2004) beispielsweise verrät die äussere Wandlungsfähigkeit die innere Instabilität der Figuren. So verliert der zwischen Teenagerängsten und Antikriegs-Feldzug aufgeriebene Zauberer Howl zunehmend die Kontrolle über sein Äusseres. Wie häufig bei Miyazaki hängt seine Identität an verborgenen Erinnerungen, deren Freilegung die Figuren nicht selten tief unter die Wasseroberfläche führt.
Von der ambivalenten Kraft des Wasser fasziniert, gewinnt der Filmemacher in Ponyo (2009) selbst einer Flutwelle etwas Positives ab, indem er zeigt, wie Naturkatastrophen die Solidarität unter den Menschen fördern. Als er mit der fiktionalisierten Biografie The Wind Rises (2013) allerdings den umstrittenen Designer japanischer Bomber zu einem weltabgewandten Künstler stilisiert, der erst allzu spät bemerkt, welche Gräuel seine Kreationen anrichten, wurde der sonst hochverehrte Filmemacher heftig angegriffen. Miyazaki selbst hat sich mit diesem elegischen Film definitiv als Regisseur verabschiedet, um sich fortan anderen Projekten widmen können.
Oswald Iten
Oswald Iten ist Filmwissenschaftler und Animationsfilmschaffender (oswalditen.ch)