Fredi M. Murer
Cineastische Mahnwachen
Zum 75. Geburtstag von Fredi M. Murer, der Leitfigur des Schweizer Films, zeigt das Filmpodium seine drei grossen «Berg»-Filme aus den siebziger und achtziger Jahren sowie den (sub)urbanen Grauzone: seismographische Erkundungen aus dem Landesinnern, deren gesellschaftspolitische Aktualität frappiert.
Es gibt in Grauzone, diesem hochästhetisch-unterkühlten Zürich-Porträt von 1979, eine Szene von entwaffnender Beiläufigkeit: Walo Lüönd in der Rolle des Nachtwächters hat eben den Schnüffler Alfred (Giovanni Früh) von einem Baum heruntergeholt und bietet ihm nun seine Couch zum Übernachten an. Da liegt er dann, der am Überwachungs- und Geheimhaltungsauftrag irre Gewordene, ausgestreckt auf dem Sofa, am Kopfende steht der Gastgeber, und auf einmal ist nicht mehr so klar, wer hier wen überwacht. Der Parkhüter den Sicherheitsbeamten – oder vielleicht doch umgekehrt?
Das Setting, das an eine Psychoanalyse-Sitzung erinnert, ist nur scheinbar hingeworfen. Einer, der wie Fredi M. Murer in Bildern denkt und Geschichten erzählt, überlässt die Inszenierung seiner synästhetischen Leinwandwelten selten dem Zufall. Seine über zwanzig Experimental-, Spiel und Dokumentarfilme sind – von der Cadrage über Kameraführung, Schnitt, Montage und Dramaturgie – allesamt sehr subtile und präzise Kompositionen. Ihre Würze liegt im subversiven Bildwitz, ihr Movens ist die raffinierte Spiegelung.
Grauzone, Murers erster Spielfilm überhaupt, erschien, fünf Jahre nachdem er – zurück aus dem selbst gewählten Exil in London und auf der Suche nach seinen Wurzeln – mit Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind (1974) den Film vorgelegt hatte, der zum dokumentarischen Standardwerk des Schweizer Films werden sollte. Welcher Schweizer Regisseur, welche Schweizer Filmemacherin hat sich in den letzten zwanzig Jahren – oft im Namen der Swissness – nicht am Handwerk der Bergbauern und an den Traditionen dieses Landes abgearbeitet?
In vielem nimmt Wir Bergler …, diese kundige, unsentimentale ethnologische Bestandsaufnahme aus den Urner Tälern, Motive, Gestaltungsmittel und eine künstlerische Haltung vorweg, die Murers Œuvre prägen: die Abgeschiedenheit und Enge der Bergwelt, den «kleinen Hunger», der ein langes Leben garantiert, die archaischen Bräuche und Sagenwelten, den Druck der Ökonomie – und immer wieder die Frage, welche Zukunft diese Welt für die Nachkommen bereithält.
Erst zaghaft bringen Jugendliche im Off fehlende Chancen bei der Ausbildung und in der Arbeitswelt zum Ausdruck, aber auch die Verlockungen des Unterlandes (die Alten halten kräftig dagegen); die Abwanderung und Überalterung der Bevölkerung klingen als Probleme an. In einer Art Konklusion hält die Schlusseinstellung die sich anbahnenden Veränderungen poetisch fest: Aus der Vogelperspektive fängt die Kamera (Iwan Schumacher) zu knurrenden Celloklängen eine Korporationsversammlung unter freiem Himmel ein, aus der sich nach und nach die Teilnehmer entfernen.
Aus der Enge der Berge
Die Auflösung der Gemeinschaft, die sich in dieser dokumentarischen Selbstversicherung ankündigt, der Impuls, sich aus einer durch topografische Beschränkungen, religiöse Dogmen und soziale Kontrolle beengenden Existenz zu befreien – aus- und aufzubrechen: dieses Thema variiert Murer in den nachfolgenden Spielfilmen mit zunehmender Dringlichkeit. Mit Nachtbildern in Schwarzweiss, Tunnelfahrten, Überwachungskameras in Grossaufnahme und einer sphärischen Tonspur schafft er in Grauzone eine Atmosphäre der allumfassenden Bedrohung. Längst hat sich Alfred innerlich aus der Ehe mit Julia verabschiedet, sich in der anonymen Wohnblocksiedlung hinter dem Fernrohr am Fenster – und im Schweigen – verschanzt. «Wortkarg kann man sein», zitiert der Film den Abschiedsbrief eines spurlos Verschwundenen, «sprachlos wird man gemacht».
Die Zeichen einer sich auflösenden Gesellschaft sind überdeutlich. Und es ist nicht allein der physikalischen Logik geschuldet, dass der Ausbruch aus einem rigiden Kontroll- und Überwachungsapparat entsprechend heftig erfolgt. Murers visionärer Stadtfilm erscheint, kurz bevor an der Limmat die Achtziger-Jahre-Unruhen ausbrechen; er trägt in sich – neben einem aus heutiger Sicht umwerfenden Zeitkolorit u. a. mit Römertopf und Wandteppich – die Ahnung einer grösseren Erschütterung. Für den Akt der Rebellion hat der Kameramann Hans Liechti ein Bild von stupender Schlichtheit gefunden: Ein Haus explodiert und fällt in sich zusammen. Still und regungslos, trotz der Gewalt, die der Sprengung innewohnt.
Mythische Dimensionen
In Höhenfeuer dann, seinem Opus magnum von 1985, bringt Murer die Dichotomie von Gefängnis und Befreiung noch einmal auf eine andere Stufe. Im Drama um den taubstummen «Bub», der sich mit erwachender Sexualität zuerst in namenlose Verzweiflung und danach in die inzestuöse Liebe zu seiner Schwester Belli ergibt, spielt die Bergwelt zwar eine konstituierende Rolle. Und der visuelle Magier Pio Corradi ringt der steinigen Kulisse Bilder von archaischer Ausdruckskraft ab. Der Konflikt des Buben aber gilt im klassisch-tragischen Sinne seiner Herkunft. Vom Instinkt getrieben, gelingt ihm die radikale Ich-Setzung nur im (ungewollten) Vatermord.
Geburt und Tod, die sich gegenseitig bedingen; Werden und Vergehen als unauslöschliches Prinzip des Lebens: Sie rücken Höhenfeuer in eine mythische Dimension. Die Sprachlosigkeit des Buben ist vor diesem Hintergrund – vielleicht – auch ein Verstummen vor der Erbschuld. Nicht von ungefähr schenkt er Belli, der Schwester und Geliebten, einen Spiegel, um sie zu besänftigen. Worin in dieser unerbittlichen Conditio humana der Auftrag des Menschen liegt, zeigt das Schlussbild dieses Meisterwerks, das sich als Angebot zur Versöhnung liest: Von einer Kerze beschienen, liegen die toten Eltern in ihrem Schneesarg auf dem Hof; ihr Erbe leuchtet hell in die Zukunft.
Noch einmal hält der Regisseur fünf Jahre später in Der grüne Berg (1990) den Finger auf den wunden Punkt: den Umgang der Menschheit mit dem, was ihr eine jahrtausendealte Geschichte und Kultur hinterlassen hat. Wie in einem archäologischen Verfahren legt der Dokumentarfilm, ausgehend von den Sondierbohrungen der Nagra am Wellenberg, die damals wie heute ungelösten Fragen des nuklearen Abfalls frei. Wir brauchen Murers cineastische Mahnwachen weiterhin.
Nicole Hess
Nicole Hess war lange Jahre Filmkritikerin (NZZ, Radio SRF 2) und Filmredaktorin beim Tages-Anzeiger.