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Das Kino der jungen BRD

Besser als sein Ruf

Nicht erst seit 1962 die Generation des Neuen deutschen Films das Kino ihrer Väter für tot erklärte, geniesst das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland einen schlechten Ruf. Olaf Möller hat für das diesjährige Filmfestival Locarno eine Retrospektive kuratiert, die das westdeutsche Filmschaffen von 1949–1963 rehabilitieren soll. Das Filmpodium zeigt daraus acht Filme sowie einige weitere Werke, die es wert sind, wiederentdeckt zu werden. Zu Beginn von Dominik Graf und Johannes Sieverts Essay «Verfluchte Liebe deutscher Film» (2016) erinnert sich der Regisseur Stefan Lukschy eines Bonmots aus den 1950ern, nach dem das Leben zu kurz sei, um sich deutsche Filme anzuschauen. Er schreibt diesen Satz Fritz Kortner zu, was eine gewisse Glaubwürdigkeit hat angesichts dessen Frustration über die junge Kinoproduktionslandschaft der BRD: Fast alle Werke, an denen Kortner beteiligt war, erwiesen sich als kommerzielle Flops und waren zudem immer wieder – wie auch einige seiner Theaterarbeiten jener Jahre – kritischen Anfeindungen ausgesetzt.
Diese Anekdote fasst knapp zusammen, wie es um die gegenwärtige filmhistorische Erinnerung an jene Jahre bestellt ist: trüb. Die BRD war das Land der Hendrik Höfgens, wie Klaus Mann in «Mephisto – Roman einer Karriere» (1936) seinen auf Gustav Gründgens basierenden «symbolischen Typus» genannt hatte. Es ist bezeichnend, dass zu den wenigen Werken jener Ära, die bis in die 1980er hinein relativ regelmässig in den bundesdeutschen Kinos liefen, Peter Gorskis Faust (1960) gehört, die Kino-Adaptation von Gustav Gründgens’ Inszenierung des Stoffes von 1957. Das war der Goethe der «inneren Emigration», der Elite der Nachkriegszeit, mit Gründgens selbst in der Rolle seines Lebens: Mephisto.

Kritikerhäme und Publikumserfolg
Heraufbeschworen wird bis heute das Bild einer restaurativ gesonnenen Nation borniert auf Verdrängung Sinnender, deren Bedürfnissen sich die lokale Kinoindustrie scheinbar hemmungslos unterwarf. Opfer-Geschichten wie die vom dauernd an seiner Entfaltung gehinderten Genie Wolfgang Staudte (Kirmes, 1960) oder von Peter Lorres wenig glücklichem Versuch, im BRD-Kino mit seinem Serienmörder-Trümmer-Noir Der Verlorene (1951) Fuss zu fassen, machten klar, wie schlimm es in den Adenauer-Jahren um den (west-)deutschen Film bestellt war.
Viele Kinoschaffende und Kritiker, die in jener Zeit tätig waren, würden diesen Eindruck bestätigen. Die erste Philippika zum Thema erschien denn auch schon 1950, stammte von Wolfdietrich Schnurre und hiess «Rettung des deutschen Films». Bis zum Oberhausener Manifest (1962), der brüsken Grabrede auf den «alten Film» (wie er darin genannt wird), sollte sich an diesem allumfassenden Sackgassen-Gefühl wenig ändern: Nörgeln gehörte zum guten Ton der einheimischen Rezensenten. Die Italiener, Franzosen und Amerikaner konnten ohnehin alles besser. Und was auch immer sich an vielversprechenden Ansätzen zeigte, wie etwa im Fall von Georg Tresslers Die Halbstarken (1956), wurde beim nächsten Film mit Argwohn betrachtet.
Nur: Wie passt dieses Bild eines scheinbar kollektiven Versagens zusammen mit der doch erklecklichen Menge an Preisen, die der bundesdeutsche Film jener Jahre gewann? Kurt Hoffmanns fette Mitläufer-Satire Wir Wunderkinder (1958) und Bernhard Wickis weltweit stilbildendes Krieg-Kinder-Action-Melodram Die Brücke (1960) etwa entwickelten sich zu regelrechten Abräumern der jeweiligen Saison. Und wenn der BRD-Film so provinziell, seine Protagonisten so talentlos und unattraktiv waren, wie kommt es dann, dass Schauspielerinnen und Schauspieler wie Cornell Borchers, Romy Schneider, Liselotte Pulver, Curd Jürgens, Hardy Krüger, Horst Buchholz, Mario Adorf oder der gerade erwähnte Wicki internationale Stars wurden? Und dass der bundesrepublikanische Film eine beachtliche Präsenz auf vielen Verleihterritorien hatte, sich teilweise also auch ins Ausland gut verkaufen liess? Was Joe Hembus in seiner berühmt-berüchtigten Abrechnung «Der deutsche Film kann gar nicht besser sein» (1961) sogar noch aufgriff, indem er einige besonders deprimierende ausländische Kritiken zitierte, um zu demonstrieren, welchen Schaden dieses Kino dem Ansehen der Nation zufügte. Wenn es denn so schlimm bestellt gewesen sein soll um das Land im Allgemeinen und den bundesdeutschen Film im Besonderen, warum kamen dann so viele vor den Nazis Geflüchtete dahin, um kreativ an der Entwicklung einer neuen Kultur mitzuarbeiten, wie etwa Robert Siodmak (Nachts, wenn der Teufel kam, 1957), Frank Wisbar (Hunde wollt ihr ewig leben, 1959), Fritz Lang (Die 1000 Augen des Dr. Mabuse, 1960) oder eben gleich zu Beginn Peter Lorre und Fritz Kortner?
Man könnte auch fragen: War ein schillerndes Delirium wie Hans Heinz Königs Heimat-Horror-Film Rosen blühen auf dem Heidegrab (1952) bloss eine Ausnahme oder doch eher die Regel eines aufreizend-gefährlichen bundesdeutschen Kinos der Sehnsüchte, Ängste, Neurosen und Brüche, das seiner Kartografierung harrte?

Vielfalt und Nuancenreichtum
Da passt vieles nicht zusammen, und das passt zu einer Nation, die der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll in einem Text von 1960 als «ungenau» bezeichnete – eben weil nichts zur Gänze dem entsprach, was man sich erwartete oder erhoffte. Die BRD unter Konrad Adenauer war immer etwas anders als tradiert. Aber wie war sie?
In Fritz Kortners einziger bundesrepublikanischer Regiearbeit Die Stadt ist voller Geheimnisse (1954) offenbart sie sich beispielsweise als berauschend vielgestaltig, belebt von Menschen, die alle ihre guten Gründe haben für das, was sie so tun und lassen, als man ihnen eröffnet, dass sie ihre Arbeit verlieren werden. Diese Graustufen und Schattierungen machen auch den Reiz aus von Georg Tresslers Die Halbstarken, der bis heute durch die schöne Hast und Fahrigkeit seiner Inszenierung besticht. Man spürt die Aufregung, das Glück aller Mitwirkenden, an einem künstlerischen Experiment beteiligt zu sein. Zwei Jahre darauf in Endstation Liebe (1958) hat sich Tresslers semi-veristische Methode schon etwas gesetzt, sodass nun charakterliche Nuancen klarer und klüger herausgearbeitet werden können. Zu sehen ist in beiden Werken eine BRD im Aufbruch, wo sich moderne Prachtbauten neben Brachen und Ruinenlandschaften finden. Nicht, dass solche Landschaften etwas BRD-Spezifisches wären: Auch das Liebespaar auf der Suche nach einer Bleibe in Aleksander Fords jazzig-kosmopolitischer Ballade Der achte Wochentag (Ósmy dzień tygodnia, 1958) treibt sich immer wieder in verschattet-schimmelig-kriegsverheerten Teilen Warschaus herum. Eine ähnlich nervöse Energie wie bei Tressler und Ford charakterisiert auch so unterschiedliche Werke wie Robert Siodmaks historisch äusserst zweifelhafte, inszenatorisch allerdings atemberaubende Auslegung des (vermeintlichen) Serienmörderfalls Bruno Lüdke, Nachts, wenn der Teufel kam (1957), Frank Wisbars faszinierend sperriges Stalingrad-Epos Hunde wollt ihr ewig leben (1959) oder Wolfgang Staudtes eiskalte Abrechnung mit der Verdrängungslust zu vieler seiner Landsleute, Kirmes (1960).
Die Bundesrepublik Deutschland war eindeutig anders, als man sich das landläufig so erzählt; und auch ihr Kino war anders, sehr anders als das, was man darüber gemeinhin zu wissen glaubt. Wie und auf welche Art anders, das gilt es zu entdecken.
Olaf Möller

Zusatzinformationen: Olaf Möller. Kölner. Filmkritiker.