Jean Gabin
Ein Schauspieler mit Klasse
Sei es als Prolet, Ganove oder Deserteur: Jean Gabin (1904–1976) gehört zu den prägenden Figuren des französischen Kinos zwischen der frühen Tonfilmzeit und den 1970er Jahren. Die Filme, die er mit Marcel Carné, Julien Duvivier und Jean Renoir gedreht hat, sind legendär. Ab den 1960er Jahren wusste er sich durch seine Zusammenarbeit mit aufstrebenden Stars wie Alain Delon und Jean-Paul Belmondo auch den Zugang zum jungen Publikum zu sichern.
Er ist der Darsteller der Klassenzugehörigkeit. Egal, auf welche Periode seiner fünf Jahrzehnte langen Karriere man blickt – augenblicklich ist zu erkennen, welcher sozialen Schicht seine Figur angehört. Jean Gabin ist kein glamouröser, sondern ein populärer Filmstar. Nie wirkt er entrückt. Das Publikum im Kinosaal erwartete von ihm vielmehr, dass er es repräsentiert.
Berühmt wurde er als einfacher Mann aus dem Volk, dessen Gutmütigkeit vom Leben auf die Probe gestellt wird. Als Proletarier mit Schiebermütze und Zigarette im Mundwinkel ist Gabin zu einer Ikone des Vorkriegskinos geworden. Diese Milieunähe hat auch eine politische Dimension: In La belle équipe verkörpert er die Aufbruchsstimmung der Volksfrontära und versucht, die Utopie von Gemeinschaftssinn und Solidarität zu verwirklichen. Nach dem Krieg, etwa in La traversée de Paris und Un singe en hiver, repräsentiert Gabin den Mythos vom heimlichen Widerstand gegen die deutschen Besatzer.
Vor allem aber verleiht er der Klassenzugehörigkeit einen selbstverständlich gestischen Aspekt. Kein anderer Schauspieler verleitet sein Publikum so häufig dazu, ihm bei körperlicher Arbeit zuzusehen. Die Kehrseite beschwört er ebenso nachdrücklich: Keinem anderen Filmstar schaut man so oft dabei zu, wie er sich erschöpft ins Bett legt. Freilich erzählt seine Karriere auch von Aufstieg und Verbürgerlichung. Auch später, wenn er Kommissare, Hoteliers oder Patriarchen spielt, bleibt seine proletarische Herkunft eine Grundierung, die im Gedächtnis haften bleibt.
Vertraglich zugesicherte Wutausbrüche
Es hätte ganz anders kommen können. Der 1904 in Paris geborene Jean-Alexis Moncorgé begann mit Auftritten in den Folies Bergère; eine Laufbahn als Revuestar stand ihm beinahe auch auf der Leinwand bevor: Er sollte die Nachfolge Maurice Chevaliers antreten, als dieser zu Beginn der Tonfilmära nach Hollywood ging. Tatsächlich ist in seinen frühen Filmen eine gewisse Leichtigkeit zu spüren. Der Legende nach jagte ihm die Kamera anfangs grosse Angst ein. Wie gut, dass sie ihrerseits Vertrauen zu ihm hatte und ihn dies bald merken liess. Er spürte, dass er seinem Instinkt folgen durfte, dass er gar nicht viel machen musste, ausser zu reagieren und seinen Leinwandpartnerinnen und -partnern aufmerksam zuzuhören; Licht und Schnitt würden den Rest erledigen.
So ist in Julien Duviviers Pépé le Moko 1934 seine düster-romantische Leinwandpersona beinahe vollständig ausformuliert. Er ist ein proletarischer «homme à femmes», ein selbstgewisser, aber anfechtbarer und verletzlicher Verführer. Früh nutzte er seinen Starruhm, um über dieses Leinwandimage zu bestimmen. Angeblich liess er sich in jedem Vertrag eine Szene mit einem Wutausbruch zusichern, bei dem seine beherrschte Virilität in einen selbstzerstörerischen Furor umschlägt. Diese Zornausbrüche entlasten seine Figuren moralisch, denn Gabins Figuren werden seit La bête humaine nie mehr aus Kaltblütigkeit zum Mörder, sondern immer im Affekt. So scheint ihr Schicksal von ihnen selbst besiegelt; ihr Tod ist oft ein verbrämter Selbstmord. Das Publikum wartet geradezu darauf, dass ihr Lebenswille gebrochen wird.
Dutzendweise schlug Gabin Angebote aus, um auf den nächsten Film von Marcel Carné, Julien Duvivier, Jacques Prévert oder Jean Renoir zu warten. Er wusste, was er ihnen schuldig war. Aus Loyalität legte er seinen Ruhm in die Waagschale, um schwer durchzusetzende Projekte wie Le quai des brumes und Le jour se lève zu ermöglichen.
An den poetischen Fatalismus dieser Vorkriegsfilme konnte er nach dem Krieg nicht nahtlos anknüpfen. Ein Intermezzo in Hollywood (etwa Moontide, 1942, mit Ida Lupino), eine stürmische Liaison mit Marlene Dietrich und sein Dienst in der Armee hatten ihn verändert. Sein Gesicht wies nun Spuren der Resignation auf. Sein Haar war schlohweiss geworden und seine Stimme tiefer und verrauchter; seine Augen drohten, ihre Leuchtkraft zu verlieren. Dennoch gelang es ihm Anfang der fünfziger Jahre, den Pakt mit dem Publikum zu erneuern. Er wurde zu einer Institution, der sich Drehbücher und Regisseure unterordneten. Nun fehlte ihm oft ein Korrektiv. Abgesehen von Renoir, Duvivier und Jacques Becker suchte er sich kaum noch Regisseure, die sein Figurenspektrum erweiterten oder gar revidierten. Er bestimmte über Kameraleute und Partner. Die Dialoge liess er sich vorzugsweise von Michel Audiard auf den Leib schreiben. Der «acteur» wurde zum «auteur». Er schrieb seinen Mythos fort. Viele Filmauftritte knüpften an frühere Rollen an. In La bête humaine steht der Zug für die Unabwendbarkeit menschlichen Verhängnisses; demgegenüber lässt sich der Lastwagen in Des gens sans importance von seinem Fahrer selbstbestimmt anhalten.
Ein grosszügiger Rivale
Gabin wusste freilich auch, dass das französische Starsystem nur in der Kombination funktioniert. Also verbündete er sich mit jenen Darstellern, die Anfang der sechziger Jahre das junge Publikum in die Kinos lockten: Jean-Paul Belmondo und Alain Delon. Mit ihnen war ihm eine Konkurrenz erwachsen, die er nicht ignorieren konnte. Auf der Leinwand jedoch ist von Rivalität nichts zu spüren. In Un singe en hiver entdeckt er zusammen mit Belmondo, dass sich auch ein Erwachsener noch kindisch benehmen darf. In Deux hommes dans la ville von 1973 wiederum zeigt er sich als Mitspieler, der Delon klug den nötigen Platz einräumt: zwei Kinomythen, die einander respektieren.
Zu der Zeit hatte er längst einen Grenzbereich zwischen Routine und inspirierter Professionalität erreicht. Das traf sich mit der Müdigkeit seiner Figuren, die sich zu alt fühlen für Komplikationen. Mit ihrer Verbürgerlichung sind sie zynischer geworden, haben Schuld auf sich geladen, zumal als untreue oder achtlose Ehemänner. An die Stelle verzehrender Leidenschaften tritt die Gemächlichkeit. In Beckers Touchez pas au grisbi dauert der nächtliche Imbiss der Gangster länger als die finale Schiesserei.
Gabin setzt diese Behäbigkeit strategisch ein, schreibt seinem jeweiligen Gegenüber das eigene Tempo vor. Seine Rolle in Le clan des siciliens demonstriert, wie viel dramaturgisches Gewicht diese erworbene Autorität hat. Seine späten Figuren legt er, auch dies ein Reflex auf frühere Rollen, oft als gefallene Humanisten an, die unnachgiebig studieren, wie tief der Mensch sinken kann. Umso erstaunlicher ist das Vertrauen, das er als Bewährungshelfer in José Giovannis Deux hommes dans la ville dem ehemaligen Bankräuber Delon entgegenbringt.
Nun ist das Alter die tragische Bestimmung seiner Figuren. Niederlagen und Triumphe nehmen sie mit der gleichen Gelassenheit hin. Gabins Züge werden regloser. Die Lippen presst er meist missmutig aufeinander. Damals hiess es, er sei der Traum jedes Synchronsprechers, weil er beim Reden den Mund kaum aufmache. Lebhaft wird sein Ausdruck nur noch aus Verdrossenheit. Ein insistierendes Kopfschütteln, weit aufgerissene Augen unter bedrohlich hochgezogenen Brauen künden von seinem Unmut über den Lauf der Welt und über die menschliche Dummheit. Diesen knappen, unverhofften Eruptionen ist ein beträchtlicher mimischer Überschuss eigen; sie werden zum gesetzten Echo seiner Vorkriegswut. Aber auch da tat die Kamera gut daran, ihm zu vertrauen.
Gerhard Midding
Zusatzinformationen:
Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.