China Independent 2017
Unsichtbar und sehenswert
Bereits 2013 haben wir unter dem Titel «China Independent » unabhängiges Filmschaffen aus China präsentiert. Aus Anlass der Ausstellung «Hinter jedem Berg steht noch ein Berg» im Helmhaus Zürich nehmen wir den Faden wieder auf und zeigen neueste Werke von chinesischen Filmemacherinnen und -machern, die unbeirrt von den Vorschriften der Partei ihre Filme drehen: ein mit einfachen Mitteln gemachtes, rohes, freches und zum Teil mit hohem künstlerischem Anspruch realisiertes «Kino von unten».
Im Zuge der gewalttätigen Niederschlagung der Tienanmen-Bewegung von 1989 entstand bei vielen Kunstschaffenden der Wunsch, ihre Geschichte(n) selbst zu erzählen und nicht länger der staatlichen Propaganda zu überlassen. Damit nahm die «neue Dokumentarfilmbewegung» ihren Anfang. Spielfilme wurden und werden weniger oft realisiert. So umfasst die diesjährige Auswahl der Werke nur ein fiktionales Werk: die fröhlich freche Melo-Rom-Com-Satire Female Directors der jungen Pekinger Filmemacherin Yang Mingming. Wenn sie erzählt, wie sie zum Filmen gekommen ist, beschreibt sie damit auch ihren direkten, frischen Stil: «Mit 16 Jahren bekam ich eine DV-Kamera und begriff sofort, dass dieses Spielzeug interessanter ist als hübsche Männer.»
Waren es anfangs die billigen und einfach zu handhabenden, neuen digitalen Produktionsmittel – allen voran die Mini-DV-Kamera, ein Touristenvideoformat, das den rohen, direkten Look und Stil ausmachte –, so wird heute meist mit professionellen Kameras, immer aber in HD-Qualität gedreht. Der kleine, selbstfinanzierte Film weicht zunehmend Koproduktionen mit ausländischer Unterstützung. Nicht wenige Protagonisten der Indie-Filmszene verlassen ihre Heimat und arbeiten vom Ausland aus. Filmfestivals treiben diese Entwicklung voran. Denn hier finden diese Filme ihr Publikum, erfahren Zuspruch der Kritik und gewinnen Preise. In China dagegen ist und bleibt der Independentfilm unsichtbar.
Unberechenbare Zensur
«Independent» bezeichnet in China nicht nur kleine, ausserhalb der grossen Studios realisierte Produktionen, sondern gänzlich unabhängige Werke, die ohne jegliche staatliche Einmischung entstanden sind. In China müssen alle Filmproduktionen bereits in den verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils den Behörden vorgelegt und bewilligt werden. Auf diesen sogenannten Drachenstempel verzichten aber die meisten Indie-Filmer bewusst, da eine Bewilligung immer mit inhaltlichen Auflagen einhergeht. Doch die chinesische Zensur ist unberechenbar. Oft bleiben Gründe für eine Ablehnung im Dunkeln, selbst bis zur Endfassung bewilligte Filme können ohne Vorwarnung verboten werden. Nicht bewilligtes Filmemachen an sich ist aber nicht verboten. Doch ohne den Drachenstempel des Filmbüros bleibt der Produktion der Zugang zu jeglicher Auswertung im Inland verwehrt: keine offiziellen Kinovorstellungen, kein DVD-Release, kein Fernsehen. Kurz: Der China Independent Film findet offiziell nur ausserhalb Chinas statt. Näher als an Festivals auf Taiwan oder in Hongkong kommen die unabhängigen Filme nicht an ihre Heimat heran.
Seit rund zehn Jahren versucht sich die Szene selbst zu helfen. Verschiedene Festivals wurden gegründet, um die Filme einem interessierten Publikum zu präsentieren und sich auszutauschen. Diese Independent-Plattformen hatten von Anfang an mit Schikanen der Behörden zu kämpfen, schafften es jedoch immer wieder, auf die eine oder andere Art ihre Programme durchzuführen. Aber es wurde zunehmend schwieriger. Das China Independent Film Festival in Nanjing (CIFF) und das zweijährliche Yunfest in Yunnan gibt es faktisch nicht mehr. Die ersten, um 2006 gegründeten Festivals, DOChina und Beijing Independent Film Festival (BIFF), wurden 2011 zusammengelegt, als im Zuge der Verhaftung Ai Weiweis die behördlichen Restriktionen zunahmen. 2014 musste das BIFF seine Tore endgültig schliessen, und auch die Zukunft des renommierten Li Xianting Film Fund, der das Festival ausrichtete, ist ungewiss. Von der BIFF-Schliessung legt die Doku-Kompilation A Filmless Festival eindrücklich Zeugnis ab. Im Anschluss an die Filmvorführung spricht Li Zhenhua, der Ko-Kurator der Helmhaus-Ausstellung, mit Zhu Rikun, dem ehemaligen Direktor des BIFF.
China zu Gast
Zhu Rikun war bereits 2013 bei uns zu Gast. Unterdessen hat auch er sich aufs Filmemachen verlegt. Im Filmpodium sind zwei seiner Werke zu sehen: The Dossier, ein Porträt der tibetischen Schriftstellerin und Bloggerin Tsering Woeser, und Welcome, ein Unmaking-of und im wahrsten Sinn des Wortes schwarzer Film über das Auslöschen eines Films noch während der Dreharbeiten.
Ganz besonders freuen wir uns, dass der Künstler Ju Anqi nach Zürich kommt. Wir zeigen seinen Erstling von 2000, Starker Wind in Beijing, zusammen mit seinem neusten Kurzfilm Big Character. Ausserdem ist sein dokumentarisches Roadmovie Poet on a Business Trip zu sehen, das zurzeit erfolgreich an diversen Festivals läuft: Es erzählt von der Reise eines Dichters durchs Land der Uiguren, witzig, krud und geprägt von einer gewissen Nostalgie. Denn gedreht hat Ju den Film bereits 2002, fertiggestellt aber erst jetzt. Warum, wird er uns selbst erzählen.
Wir setzen Sie ins Bild
Insgesamt haben wir uns bemüht, die Vielfalt des unabhängigen chinesischen Filmschaffens zu repräsentieren. Wir zeigen Werke von etablierten Filmemachern und Newcomerinnen, lange und kurze, einfache und künstlerisch gestaltete, herausfordernde und leichter zugängliche Filme.
Gleich drei Filme von Wang Bing, dem zurzeit wohl bekanntesten chinesischen Dokumentarfilmer, sind erstmals in Zürich zu sehen. Three Sisters und 'Til Madness Do Us Part haben an internationalen Festival zahlreiche Preise gewonnen; sein neuster Film Ta'ang feierte 2016 an der Berlinale Premiere. Diesem arrivierten Meister gegenüber steht die junge Filmemacherin Zhu Shengze, die erst zwei Filme realisiert hat, aber ebenfalls grosse Erfolge feiert. Out of Focus und Another Year sind deutlich miteinander verknüpfte Werke. Letzterer gewann u. a. an den Visions du Réel in Nyon den Hauptpreis.
Zu guter Letzt sei noch auf den «Exoten» in dieser Reihe hingewiesen. Der US-Amerikaner J. P. Sniadecki dreht für das Harvard Sensory Ethnography Lab. Er zeichnet verantwortlich für die künstlerische Intervention Yumen, die Begehung einer ehemals reichen Geisterstadt, und The Iron Ministry, eine einzige, nie endende Zugfahrt durch China. Es ist keine Fahrt durch den Raum, sondern durch Zeiten; wir begegnen einem bunten Gemisch von Zugbegleitern und Passagieren, darunter der Schriftstellerin Tsering Woeser, die auf dem Weg nach Tibet über den Zusammenhang von Eisenbahnlinien und Macht nachdenkt.
Damit Sie sich von den Filmschaffenden und ihren Werken ein Bild machen können, haben wir die Fotogalerie auf der Filmpodium-Website wo immer möglich um Trailer und Interviews ergänzt. Zudem finden sich in den Filmtexten Links zu weiterführenden Informationen. Dieses «China-Independent-Kompendium» soll bei Bedarf laufend ergänzt werden.
Primo Mazzoni