Federico Fellini
Nach dem Riesenrummel zu Lebzeiten ist es still geworden um Federico Fellini (1920–1993). Der richtige Zeitpunkt, um mit einiger Distanz ein Œuvre zu betrachten, dessen Regisseur immerzu aus dem Vollen zu schöpfen schien und dafür wie ein Popstar gefeiert wurde. Wer wäre dafür besser geeignet als unser langjähriger Filmdozent Fred van der Kooij, der sich nicht scheut, die Ehrfurcht beiseitezulassen, langjährige Werturteile zu hinterfragen und Anthologiefilme vom Sockel zu kippen.
Tüchtig zugebissen hat der Zahn der Zeit. Von den 24 Filmen Fellinis – seine Werbespots nicht mitgezählt – haben m. E. nur deren fünf als Meisterwerke überlebt. Sogar La dolce vita (1960), damals eine Offenbarung, schleppt sich heute langfädig dahin und hat an gesellschaftlicher Sprengkraft eingebüsst. Den grössten Schock hält beim Wiedersehen wohl La strada (1954) bereit. Damals mit Preisen und Lobeshymnen überschüttet, bleibt heute nur noch ein unerträglich sentimentaler, filmisch einfallsloser und technisch wie dramaturgisch linkisch zusammengekleisterter, moralinsaurer Streifen. Aber nach wie vor ist Amarcord (1973) ein einziges Vergnügen, I vitelloni (1953) ein frühes Bijou, Roma (1972) ein virtuoses Feuerwerk, Casanova (1976) ein unterschätztes Teufelswerk und Otto e mezzo (1963) schlicht einer der grössten Filme der Kinogeschichte.
Wir müssen nochmals über die Bücher.
Varieté und Panoptikum
Das Varieté seiner Jugend prägt Fellinis Gesamtwerk bis in die tiefsten Strukturen. Formal gesehen ist diese Gattung des Volkstheaters auf dem Modell des Potpourris gebaut: Nummer wird an Nummer gereiht. Es ist das simpelste Formschema, das man sich denken kann, und Fellini hat es über alles geliebt. Nun wird es Sie überraschen, aber diesen Einfluss auf seine filmische Dramaturgie halte ich für einen absoluten Glücksfall. Fellini hat wohl als einer der ersten Regisseure entdeckt, dass der Film am Gängelband des ewigen Erzählens auf Dauer nicht vom Fleck kommt. Erzählen spielt mit der Erwartung, Fellinis anekdotische Struktur jedoch mit der Dreingabe. In Giulietta degli spiriti ist eine kuriose Gesellschaft tief in eine Séance verwickelt. Da ist es schon auffallend, dass die Gastgeberin dennoch Zeit findet, sich von einem geringfügigen Geschehen in ihrem Garten ablenken zu lassen. Dort nämlich stelzt ihr Gatte mit einem der Gäste im Gleichschritt durch die Nacht. Eine ebenso bedeutungslose wie schöne Szene. Fellini war nun mal ein Meister der Verschwendung. Im Studio liess er einmal mit Riesenaufwand einen venezianischen Kanal mit einer an historischen Prachtbauten vorbei schwebenden Gondel konstruieren. Die Dauer der Einstellung? Gerade mal acht Sekunden. Was aber ökonomisch Tadel erzeugt, ist ästhetisch gesehen die Kür. Anstelle einer narrativen Entwicklung tritt bei Fellini die Gleichzeitigkeit von verschiedenartigsten Geschehnissen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Autobahnfahrt nach Rom im Film über diese Stadt. In einem fort fährt die Kamera an Fahrzeugen und an Situationen in der Landschaft entlang, aber diese an sich triviale Ausgangssituation wird dauernd überhöht, indem dabei mal anekdotisch Pointiertes, mal surreal Zugespitztes aufblitzt, als wäre alles Alltägliche nur ein Spuk. Das ganze Panoptikum wird zudem noch eingefangen von einem Kamerateam, das primär mit dem verschwindenden Tageslicht und dem einbrechenden Regen zu kämpfen hat. So verschachtelt sich die Welt zur unerschöpflich wirkenden Mehrstimmigkeit.
Dagegen stehen jene so gut wie dialoglosen Szenen, in denen die Kamera wie erstaunt kurz in entleerten Räumen verharrt; eine Beobachterin unberührter Orte. Sie gehören zum Kostbarsten in diesem Werk, allein schon wegen ihrer Seltenheit. Zarte audiovisuelle Ereignisse inmitten einer Dramaturgie der Paukenschläge. Wie etwa jene Landung eines Pfaus auf dem verschneiten Dorfbrunnen in Amarcord, bei der eine der schönsten Kranfahrten der Filmgeschichte das Aufsetzen des Vogels abfedert und das Tier als Dankeschön dafür die Federn spreizt. Da verschlägt es sogar den Papagalli der Ortschaft kurz die Sprache.
Apropos Papagalli: Obwohl der Pornofilm zur Genüge bewiesen hat, dass das Körperliche an der Liebe zutiefst unfilmisch ist, gelang Fellini das Unmögliche. Gleich den ersten Liebesakt in Casanova verwandelte er in ein hypnotisch schönes Ballett mit von Tüchern umtanzten Körpern, die so den Verlust des Taktilen im Kino souverän kompensieren.
Ein virtuoser Dilettant
Bei so viel Kunstfertigkeit erstaunt die Tatsache, dass damals in Fachkreisen behauptet werden konnte, Fellini habe von der technischen Seite des Films keine Ahnung. Er selber hat, immer der beste Agent provocateur in eigener Sache, gern an dieser Legende mitgesponnen. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden, oder wenn schon Karikaturist. Aber dann haben ihn zuerst Roberto Rossellini und dann – ein wichtiger Mann zu jener Zeit – Alberto Lattuada buchstäblich in die Filmregie hineingedrängt. So wurde Fellini einer der virtuosesten Dilettanten der Kinogeschichte. Wen das ein zu leicht dahingesagtes Oxymoron dünkt, der sollte sich in La dolce vita jene Szene anschauen, wo zwei Kinder vorgeben, die Jungfrau Maria zu sehen. Sie ist – was bis jetzt übersehen wurde – einer der technisch spektakulärsten Sequenzen nachgebildet worden, die je in Hollywood entstanden sind: der Massenszene im strömenden Regen aus Frank Capras 1941 gedrehtem Meet John Doe. Bis in einzelne Details geht da die Anleihe und dennoch krempelt Fellini die Ausgangslage völlig um und unterwirft sie souverän seinem eigenen, ganz uncaprahaft sarkastischen Anliegen. Da ist Diebstahl vom Feinsten zu bewundern.
Ich habe es schon angedeutet: Fellini hat von Anfang an rücksichtslos Budgets überzogen (bei Casanova um mehr als das Dreifache), Produzenten in den Bankrott getrieben oder zumindest nahe an eine sichere Absturzstelle. Kein anderer Regisseur, weder vor noch nach ihm, hat das überlebt. Und er konnte sich das erstaunlicherweise leisten, obwohl mehrere seiner Filme bei der Premiere zunächst beim Publikum durchfielen. Nach Aussagen von vielen Darstellern, etwa von Donald Sutherland, der es am eigenen Leibe erfahren musste, hat er Schauspieler gehasst und zur Verzweiflung getrieben und war eifersüchtig auf jeden am Set, der brillierte. Dennoch ist er immer «im Geschäft» geblieben, als wäre er ein unkontrollierbares, nicht zu bremsendes Naturereignis. Und dieser Regisseur hatte erst noch die Neigung, sich wie ein Moral predigender Lüstling zu benehmen. Dabei war er, wie Orson Welles einmal gnadenlos feststellte, doch nur ein Provinzler, den es in die Grossstadt verschlagen hatte und der sich nun bei seinem eigenen sittenlosen Treiben erstaunt über die Schulter schaute. Aus dieser Verwunderung, die er selbst mehrmals in seinen Filmen «la grande confusione» genannt hat, nährt sich aber seine Kunst. So hatte er seinen Film über Casanova mit einem ausgesprochenen Widerwillen gegenüber dieser Figur begonnen, bis er nach einigen Wochen am Set merkte: «Verflixt und zugenäht, dieser Kerl bin ich ja selbst!» Das hätte ihm Gustav Flaubert im Voraus sagen können. Es geht zwar die Mär herum, dass weder Schriftsteller noch Regisseure ihre Protagonisten hassen dürfen, aber das ist Nonsens. Man darf, ja manchmal muss man es sogar, denn am Ende stellt sich heraus: «Madame Bovary, c’est moi.»
Fred van der Kooij
Fred van der Kooij, 1948 in den Niederlanden geboren und seit 1972 in Zürich wohnhaft, komponierte und setzte sich mit Musiktheorie auseinander, bevor er sich dem Film zuwandte. Seither ist er als Filmemacher und als Filmdozent u. a. an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg tätig und publiziert regelmässig zu film- und musiktheoretischen Themen. Seit zehn Jahren hält er im Filmpodium jeden Herbst eine fünfteilige Vorlesungsreihe.