Jacques Tourneur
Als Sohn des französischen Stummfilmpioniers Maurice Tourneur war ihm Filmemachen in die Wiege gelegt, dennoch verlief seine Karriere eher ungewöhnlich: Nach Anfängen in Frankreich mauserte sich Jacques Tourneur in Hollywood zum A-Film-Regisseur, um nach einer glanzvollen Periode von meisterhaften Werken in diversen Genres in der Obskurität des Fernsehens zu versinken. Das Locarno Festival widmete 2017 dem subtilen Allesdreher eine umfassende Retrospektive. Das Filmpodium zeigt die Filetstücke, zu denen der Filmwissenschaftler Lukas Foerster den Kontext liefert.
«Meine Gedanken bewegen sich selten auf einer geraden Linie», meint der Bankier George Camrose in Jacques Tourneurs Western Canyon Passage. Camrose, von dem man zum Schluss nicht sagen kann, ob er ein verkappter Bösewicht oder ein verhinderter Held ist, bringt so nicht nur seine eigene Unentschlossenheit auf den Punkt, sondern auch ein Grundprinzip der Filme Tourneurs: Tourneur ist ein Regisseur, der zeit seiner Karriere populäre Genrefilme gedreht hat, der dabei aber nie den geradlinigen Weg des geringsten Widerstands gegangen ist. Er war ein Auftragsregisseur, der stolz behauptete, niemals ein Drehbuch abgelehnt zu haben, und der doch in seinen über 30 Langfilmen niemals nur Dienst nach Vorschrift leistete.
Ein Kino der Zwischentöne
Tourneurs Filme heben sich sanft, aber bestimmt von den Konventionen ab: Western ohne Shootouts (Canyon Passage), Films noirs, die nicht in der Grossstadthölle, sondern vor einer Kulisse ländlicher Idylle spielen (Out of the Past, Nightfall), Monsterfilme ohne Monster (The Leopard Man). Der Grundmodus seines Kinos – und das ist vielleicht der Kern seiner noch heute nachfühlbaren Radikalität – ist nicht die Handlung, sondern der Zweifel. Das heisst zum einen, dass man in einem Tourneur-Film seinen Sinnen niemals bedingungslos trauen darf, schon weil die entscheidenden Handlungen meist dem Blick entzogen oder durch das kunstvolle Halbdunkel des Schattenspiels verunklart sind. Zum anderen heisst es aber auch, dass Tourneurs Helden immer wieder in Selbstzweifeln gefangen sind. Das betrifft nicht nur die Horrorfilme wie Cat People oder Night of the Demon, in denen die Hauptfiguren lange vergeblich versuchen, die mysteriösen Ereignisse um sie herum zu rationalisieren. Sondern es zeigt sich auch in einem in die argentinische Steppe verlegten Western wie Way of a Gaucho, dessen Hauptfigur erst spät erkennt, dass ein unbedingter Freiheitsdrang nur auf Kosten des eigenen Glücks ausgelebt werden kann.
Tourneurs Kino plädiert immer wieder dafür, den Zweifel und die Schwäche zuzulassen, die Beschränktheit der eigenen Perspektive anzuerkennen. Das gilt sogar für die Liebesgeschichten, die die Filme oft nur nebenbei erzählen: In Cat People muss sich ein Mann zwischen zwei Frauen entscheiden, in Experiment Perilous eine Frau zwischen zwei Männern, andere Filme wie Canyon Passage oder I Walked With a Zombie entwerfen ein komplexes Geflecht des Begehrens. Interessanterweise läuft das fast nie auf blossen Eifersuchtskrawall heraus. Es geht nicht so sehr darum, sein Liebesobjekt zu erobern, als darum, die eigenen Gefühle zu reflektieren.
Ein Kino der Ambivalenz und der Zwischentöne und gleichzeitig eines der gestalterischen Präzision und der erzählerischen Ökonomie. Tourneur ist ein Meister der kinematographischen Verdichtung, ein Regisseur, der genau weiss, dass ein kurz im Hintergrund vorbeihuschender Schatten manchmal effektiver ist als eine ausgewalzte Monsterszene. Out of the Past ist mit 96 Minuten Laufzeit sein längster Film. Dessen undurchdringliches Intrigendickicht würde heute wohl für ganze Serienstaffeln reichen.
Anders als die meisten anderen europäischen Regisseure, die in den 1930er Jahren in Hollywood Fuss zu fassen versuchen, hat Tourneur ein enges biografisches Verhältnis zu seiner Wahlheimat: Schon als Zehnjähriger zog er in die USA, weil sein Vater Maurice dort Arbeit als Filmregisseur gefunden hatte. Tatsächlich gehörte Maurice Tourneur zu den Pionieren des Hollywoodkinos; genau wie später sein Sohn erwarb er sich einen Ruf als exzellenter Stilist. 1925 kehrte er allerdings, nachdem seine Karriere in eine Krise geraten war, mit seiner Familie nach Europa zurück.
Und so beginnt Jacques Tourneurs Filmlaufbahn in Frankreich, zunächst als Schnittassistent bei den Filmen seines Vaters, ab 1931 folgen eigene Regiearbeiten. Die vier Filme, die bis 1934 entstehen, sind alle leichtfüssige Komödien. Und obwohl Tourneur später kaum noch in diesem Genre arbeiten wird, steckt in dem Frühwerk doch schon viel vom visuellen Erfindungsreichtum der späteren Meisterwerke. Toto (1933) zum Beispiel begeistert mit einer flüssigen, dynamischen Kameraführung, die immer wieder den Gegensatz von Freiheitsdrang und Eingeschlossensein nachvollzieht, der im Film zentral ist.
Die Kunst des Flüsterns
Toto sollte seine Eintrittskarte für Hollywood sein, aber nach seiner abermaligen Übersiedelung in die USA muss Tourneur 1935 wieder ganz unten anfangen: als Regieassistent und Kurzfilmregisseur. Erst 1939 hat er wieder die Möglichkeit, Langfilme zu drehen, wenn auch zunächst nur klein budgetierte B-Filme. Der (wie sich bald zeigt, nur vermeintliche) Durchbruch erfolgt 1942: Sein für den legendären Produzenten Val Lewton gedrehter Cat People wird zu einem Kassenerfolg und in der Folge zu einem Klassiker des fantastischen Kinos. Was auf dem Papier nach kruder Gruselfilmdutzendware um Gestaltwandlung und Sexualneurosen ausschaut, entpuppt sich als ein abgründiges, atmosphärisches Horrordrama über die verführerisch flackernden Schattenseiten der menschlichen Psyche.
Nach zwei weiteren Meisterwerken für Lewton – I Walked With a Zombie und The Leopard Man – wird Tourneur von seinem Studio RKO zum A-Film-Regisseur befördert. Er kann einige etwas aufwändigere Filme realisieren, in der ersten Riege Hollywoods kommt er trotzdem nie an. Mit Stars darf er höchstens dann zusammenarbeiten, wenn sie noch am Beginn ihrer Karriere stehen – wie zum Beispiel bei Out of the Past, einem vom Zweifel regelrecht zerfressenen Film noir, in dem ein junger Robert Mitchum von einem ebenso jungen Kirk Douglas heimgesucht wird. Das heisst freilich auch: Tourneur muss nicht auf die Eitelkeit der Stars Rücksicht nehmen, kann mit unverbrauchten Gesichtern arbeiten, kann seine Akteure nach seinem eigenen Willen formen. Am Set hat er ihnen, das wird immer wieder erzählt, vor allem eine andere Art des Sprechens beigebracht: leiser, natürlicher, zurückhaltender. Und in der Tat wird nicht nur in Tourneurs Horrorfilmen die Kunst des Flüsterns zelebriert – selbst in seinen Western herrscht ein nachdenklicher, fast introvertierter Tonfall vor.
Anfang der 1950er-Jahre, Tourneur arbeitet inzwischen als Freelancer für verschiedene Studios, werden seine Budgets wieder kleiner, im Laufe des Jahrzehnts wendet er sich vermehrt dem Fernsehen zu. In den 1960er-Jahren verläuft seine Karriere zwischen unglücklichen und unrealisierten Projekten im Sand. Als er 1971 nach Frankreich zurückkehrt, ist sein Werk fast komplett vergessen – nur um seither in regelmässigen Abständen wiederentdeckt zu werden. Dass Tourneur heute immer noch eher ein ewiger Geheimtipp als ein kanonisierter Meisterregisseur ist, passt zu seinen Filmen: Auch die wollen nicht mit Glamour und Action überwältigen, sondern schlagen ihr Publikum langsam, dafür umso nachhaltiger in Bann.
Lukas Foerster
Lukas Foerster lebt in Zürich. Er arbeitet als Medienwissenschaftler, schreibt Filmkritiken und organisiert Filmreihen.
Das Filmpodium dankt den Kuratoren der Retrospektive Jacques Tourneur am Locarno Festival 2017, Ricardo Turigliatto und Rinaldo Censi, und ihrem Team für die gute Zusammenarbeit.