Memento Moreau
1. JANUAR BIS 15. FEBRUAR 2018
Sie war nicht schön im landläufigen Sinne, aber von einer grossartigen schauspielerischen Ausdruckskraft. Sie hatte Mut zu riskanten Projekten und ein hervorragendes Sensorium für junge talentierte Regisseure. Das macht Jeanne Moreau (1928 – 2017), die Ikone der Nouvelle Vague, zu der Schauspielerin, die mehr gute Filme mit hervorragenden Regisseuren gemacht hat als jede andere.
Nostalgie war ihr suspekt. Dennoch liebte sie es, wenn man ihr Retrospektiven widmete, was einer Schauspielerin vom Range einer Jeanne Moreau bereits zu Lebzeiten regelmässig widerfuhr. Bei solchen Anlässen konnte sie vom Kino sprechen, was sie gerne und klug tat, und von all den Filmschaffenden, mit denen sie im Laufe ihrer über sechs Dekaden währenden Karriere zusammengearbeitet hatte. Eine wahrlich illustre Schar – ihre Filmografie liest sich wie das «Who’s Who» des europäischen Autorenfilms –, deren geschmackssichere Zusammensetzung Ergebnis eines sorgfältigen Auswahlprozesses war. «Ich habe den Entschluss gefasst, nur mit guten Regisseuren zu arbeiten. Berühmte oder junge, von denen noch nie jemand gehört hatte, das machte keinen Unterschied, solange ihre filmischen Ideen interessant waren», sagte sie einmal. «Nun kann ich zurückschauen und sehen, dass ich kaum einen Film gemacht habe, für den ich mich schämen müsste. Selbst die schlechten waren gute Ideen.»
Moreau konnte sich erlauben, wählerisch zu sein, denn als das Kino rief, war sie längst ein Star der französischen Bühne. Noch ehe sie das Konservatorium abgeschlossen hatte, engagierte der grosse Theatermacher Jean Vilar sie 1947 für sein neu gegründetes Festival von Avignon. Da war sie noch keine 20. Wenig später wurde sie die jüngste fest angestellte Schauspielerin an der Comédie française, von wo sie Vilar an sein Théâtre National Populaire lockte. Dort sah sie der junge Louis Malle in «Die Katze auf dem heissen Blechdach» und wollte sie unbedingt für sein Regiedebüt. Ascenseur pour l’échafaud hiess der Film, der Anfang 1958 ins Kino kam. Er begründete Jeanne Moreaus Ruhm als Filmschauspielerin und gab bereits einen Vorgeschmack auf die neue Welle rebellischer Filmschaffender, die bald den Aufstand gegen Papas Kino proben sollte.
Stilbildend wurde eine Szene, in der Moreau durch das nächtliche Paris streift, auf der Suche nach ihrem Geliebten. Sie ahnt nicht, dass er nach erfolgreicher Ausführung des gemeinsam geplanten Mordes an ihrem mächtigen Gatten im Fahrstuhl stecken geblieben ist. Wie sie da, untermalt von Miles Davis’ legendärem Soundtrack, über die dunklen Boulevards irrt, nur erhellt vom Licht der Schaufenster und Cafés, widerspricht allen handwerklichen Traditionen, wie eine Hauptdarstellerin zum perfekt ausgeleuchteten Glamourwesen zu trimmen sei. Moreaus früheren Rollen, etwa der Gangsterbraut in Jacques Beckers Touchez pas au grisbi (1954), sieht man noch ein intensives kosmetisches Bemühen an, ihren Zügen mehr Harmonie aufzuoktroyieren.
Fast hässlich und doch unglaublich attraktiv
Doch in einer Zeit, da sich die weiblichen Stars des italienischen Kinos unter Schönheitsköniginnen rekrutierten, galt sie mit ihren herabhängenden Mundwinkeln, stets etwas skeptisch hochgezogen wirkenden Brauen und Schatten unter den Augen als nicht wirklich fotogen. Die Kontroverse darüber, ob Jeanne Moreau schön war oder nicht, und wenn ja, auf welche Weise, dauert bis zu den Nachrufen auf sie im vergangenen Sommer unvermindert an, ohne dass man in der Summe zu einem klareren Verdikt gekommen wäre als seinerzeit Louis Malle: «In einem Moment ist sie fast hässlich und dann zehn Sekunden später unglaublich attraktiv.»
Freilich fasziniert uns die Präsenz einer Moreau nachhaltiger, als Schönheit allein es könnte. Zu Recht heisst es in ihrem bekanntesten Film, François Truffauts Meisterwerk Jules et Jim, über ihre Figur, dass «wir ihr, wie einer Königin, unsere vollste Aufmerksamkeit schenken». Die Wirkung, die von Jeanne Moreau ausging, verdankt sich, neben aller schauspielerischen Ausdruckskraft, auch der Rätselhaftigkeit, die man stets in sie hineinzulesen pflegte. Jener geheimnisvollen Aura, die sie zur Idealbesetzung für die moderne, intellektuelle Filmkunst der Nouvelle-Vague-Ära machte. Wie Roger Ebert einmal schrieb, hat «sie mehr gute Filme mit grossartigen Regisseuren gemacht als sonst irgendjemand». Mit Fug und Recht kann man von ihr als einer Epochenfigur des Kinos der frühen sechziger Jahre sprechen: Da folgten hintereinander Peter Brooks Moderato cantabile (1960), Michelangelo Antonionis La notte (1961), Truffauts Jules et Jim (1962), Jacques Demys La baie des anges (1962), Orson Welles’ The Trial (1963) und Luis Buñuels Le journal d’une femme de chambre (1964), um nur die bekanntesten Werke zu nennen.
Souverän sie selbst
Was rückblickend als glänzender Lauf erscheint, erforderte anfangs ein riskantes Bekenntnis zur eigenen Souveränität. Gegen den erbitterten Widerstand ihres Agenten hat sie sich auf Malle und «diese jungen Leute da» eingelassen, wie sie zuvor schon den Beruf der Schauspielerin gegen den Willen ihres Vaters durchgesetzt hatte. Auf der Leinwand gab sie dann häufig Frauen, die durch ihre Unabhängigkeit die bürgerliche Ehe und Familie bedrohen. Etwa in ihrem zweiten Film mit Louis Malle, Les amants, 1958 ein Skandalerfolg. Die Geschichte einer Frau, die Mann, Kind und Geliebten für einen Jüngeren verlässt, beschäftigte in den USA die Gerichte und inspirierte einen Richter zu der legendären Pornografie-Definition «I know it when I see it» (was er in diesem Fall aber nicht tat). Am extremsten erfüllt sie diesen Rollentyp in Eva (1962). Ohne Moreaus verstörendes Porträt der titelgebenden Verführerin, skrupellos und verspielt zugleich, wäre Joseph Loseys Denunziation spätkapitalistischer Dekadenz vor allem eines: sehr manieristisch. Auf die stereotype Femme fatale hat sie sich dennoch nie reduzieren lassen, selbst wenn sie auf der Leinwand immer wieder Männer ins Verderben stürzte – fünf allein in La mariée était en noir, mindestens einen in Jules et Jim.
Dabei fängt alles so schön an in diesem wundervollsten Liebesdreieck der Filmgeschichte. Nach der ehelichen Entfremdungsballade La notte fand Moreaus langjähriger Bewunderer Truffaut, dass es langsam Zeit sei, auch ihre heiter-lebensfrohe Seite zur Geltung zu bringen. Als Catherine bezaubert sie zwei Männer, sie ist die Quelle allen Seelenjubels und aller Verzweiflung, reizend, unabhängig, etwas verrückt und völlig unberechenbar in ihrem Changieren zwischen den beiden Männern und zwischen Lebenslust und Todestrieb. Auch in dieser Geschichte endet es nicht gut mit der Liebe, aber was in Erinnerung bleibt, ist vor allem der utopische Zustand jenes magischen Sommers zu Beginn.
Die politischen Utopien der sechziger Jahre dagegen zeigt Malles burleske Revolutions-Operette Viva Maria!. Was für ein unwiderstehliches Duo bilden Jeanne Moreau und Brigitte Bardot da! Doch wie unterschiedlich sind sie gealtert; während BB sich früh zurückzog, führte JM selbst Regie bei zwei Spielfilmen (Lumière, 1976 und L’adolescente, 1979) und einem Porträt von Lillian Gish und stellte sich bis ins hohe Alter «diesen jungen Leuten da» zur Verfügung, die jetzt Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder oder François Ozon hiessen. In dessen Le temps qui reste (2005) gibt es eine Szene, in der sie ihren todkranken Enkel auf die Frage, ob er unter ihre Decke schlüpfen dürfe, warnt, sie sei aber nackt. «Welcher anderen Schauspielerin über siebzig», fragte der Filmkritiker Michael Althen hingerissen, «hätte das Kino je zugetraut, dass sie nackt schläft?»
Julia Marx
Julia Marx ist Filmjournalistin, Mitglied der Semaine de la critique am Locarno Festival und semiprofessionelle Nostalgikerin.