Carl Theodor Dreyer
16. FEBRUAR BIS 31. MÄRZ 2018
Zum 50. Todestag des dänischen Cineasten Carl Theodor Dreyer am 20. März 2018 widmet das Filmpodium diesem grossen Erneuerer des europäischen Kinos erstmals eine umfassende Retrospektive. Diese macht deutlich, dass Dreyers legendäre Konzentration auf Kammerspiele und Leidensgeschichten von Frauen der tatsächlichen Bandbreite seines Talents und der Vielfalt seiner Themen nicht gerecht wird.
Wie wohl für keine andere Weltgegend gilt für die nordischen Länder, dass ihre grossen Filmregisseure in besonderem Masse als Schöpfer grosser Frauengestalten hervorgetreten sind. Lars von Trier mag der jüngste sein in einer Genealogie, die über Ingmar Bergman zurückreicht bis zu Carl Theodor Dreyer, der 1889 in Kopenhagen geboren und 1968 daselbst gestorben ist. Seine schwedische Mutter, geschwängert von einem dänischen Landbesitzer, hat ihren Karl getauften Sohn nie kennengelernt. Nach Stationen in Kinderheimen kam dieser im Alter von zwei Jahren in die Familie des Schriftsetzers Dreyer, dessen Namen er fortan trug und dessen Obhut er so bald wie möglich zu entkommen suchte, um sich früh schon als Pianist, Ballonfahrer und Journalist zu betätigen. 1913 begann er für Nordisk Film zu arbeiten und erwarb sich in der Folge gründliche Kenntnisse als Cutter und als Autor von Drehbüchern, von denen er rund zwei Dutzend fertigte, meist Kriminal- und Abenteuergeschichten.
1918 wurde Carl Theodor Dreyer mit seiner ersten Regie betraut. Obwohl Præsidenten mit seinem Diskurs zum Ehrbegriff tief im 19. Jahrhundert wurzelt, wird seine Aktualität und seine – zumal für Dreyer – schlagende Dringlichkeit spätestens in dem Moment evident, da die wegen Kindsmords zum Tod verurteilte ledige Mutter sich vor Gericht eine Beschimpfung ihrer Mutter als liederlich anhören muss, wogegen sie vehement protestiert. Das Kolportageelement – der Gerichtspräsident, der auch das Urteil fällen soll, ist zugleich ihr Vater – wird gekonnt neutralisiert durch Dreyers Regie, die grossen Wert auf Details legt wie das wiederholt ins Bild gerückte Quartett vom Kätzchen und den drei Hündchen, die zuletzt gar noch als possierliche «Trauzeugen» fungieren.
In der Komödie Prästänkan (Die Pastorenwitwe, 1921) begegnen wir erstmals den für Dreyers Schaffen so zentralen Motiven der Hexe und des Wiedergängers. Zunächst erscheint die alte Dame, deren Ringfinger bereits drei Eheringe zieren, als Drache, der dem jungen Hallodri, der da glaubte, sich ins gemachte Bett legen zu können, handgreiflich klarmacht, wer Herr im Haus ist. Seine laufend vereitelten Versuche, zu seiner als Schwester ausgegebenen Verlobten zu gelangen, und sein bizarres Unterfangen, in der Verkleidung als Teufel Frau Margarete einen Herzinfarkt zu bescheren, sind von auch heute noch funktionierender Komik; gleichermassen versteht es Dreyer, die Tragik der alten Frau zu vergegenwärtigen, die «nun schon zum vierten Mal wie ein Möbelstück weitergereicht» worden ist. Geläutert erfährt das junge Paar, dass es in stark abgemilderter Form das Schicksal der Vorgängerin wiederholt, die ihm zuletzt sogar Instruktionen mitgibt, wie ihre Wiederkehr als nicht sterben könnende Pastorenwitwe zu verhindern sei ...
Hammershøi oder das Malerische
Auch Du skal ære din hustru (Du sollst deine Frau ehren bzw. Master of the House, 1925) zeigt humoristische Einsprengsel: bei der endlich an die Hand genommenen Umerziehung eines Haustyrannen, der Angst und Schrecken sät in einem Haushalt, dessen weibliche Mitglieder nur ein Ziel kennen – ihm zu Gefallen zu sein. Bemerkenswert ist, wie dieser John, dem die von der resoluten alten Kinderfrau in die Kur geschickte Ehefrau Ida zugutehält, dass sie doch auch gute Jahre gehabt hätten, nie zur Karikatur verkommt. Auch dann nicht, als er am Schluss in die Ecke stehen muss, worauf eine wunderschöne Ida ins Zimmer und zu ihm zurückkehrt. Dreyer inszeniert nicht nur mit Bildwitz, etwa wenn die Alte abwechselnd nach links und nach rechts schaut, den Wäschestücken hinterher, die durch die Gegend fliegen, sondern – bevor zuletzt das Wort Ende über dem als Herz geformten Uhrpendel erscheint – mit geradezu malerischem Blick.
Der dänische Kunsthistoriker Poul Vad hat darauf aufmerksam gemacht, wie stark Dreyers Bildfindungen von der Malerei seines Landsmanns Vilhelm Hammershøi beeinflusst sind. Johns von hinten gesehene Schulter und sein Kopf, um den sich im Gegenlicht zwei weisse Frauenhände legen, sind als dunkle Kontur das nachgerade klassische Muster Hammershøischer Figurendarstellung. Bereits in Præsidenten waren sie da: das Prinzip des leeren Vordergrunds, die strenge Mittelachse, die Gliederung von Vertikalen und Horizontalen in präzis gefugten Quadern sowie, dies vor allem, der virtuos variierte Blick durch die geöffnete Tür in einen nächsten und übernächsten Raum. Wir werden ihnen bis zum Schluss wieder begegnen, auch in Gertrud, der die Raumgliederungen durch den Einsatz von Spiegeln erweitern wird (wobei die Spiegelung, zumal die im Wasser, Dreyers ganz eigene, von Anfang an geübte Praxis der Verfremdung von Nähe bezeichnet).
Eine befremdliche Sache ist allerdings der Film Michael (1924) geworden, der sich, wo nicht mit Malerei, so doch mit der überlebensgrossen Figur eines Malers befasst. Von Klaus Mann begeistert, von Thomas Mann verschämt gefeiert, hat der Roman «Mikaël» (1904) von Herman Bang unter Homosexuellen weite Verbreitung gefunden; die Liebe zwischen Männern schildert er freilich nur als einseitiges, unerfülltes Sehnen des Älteren, während er in der Schilderung weiblicher Schönheit an Erotik nicht geizt. Zweifellos aber ist er ein Schlüsselwerk zur Pariser Kunstszene der Belle Époque – ein Aspekt, den die deutsche Produktion (Erich Pommer) und Mitarbeit am Drehbuch (Thea von Harbou) dem Film zur Gänze ausgetrieben haben. Mit der Rolle des «Meisters» hat Dreyer Benjamin Christensen betraut, den Regisseur des erstaunlichen Häxan (1922), während der junge Walter Slezak die Rolle des Titelhelden und Liebhabers der bankrotten russischen Fürstin versieht. Robert Garrison macht den Kunstkritiker Switt zur interessantesten Figur. Karl Freund, hier nicht nur hinter der Kamera, gibt in einem Cameo als Kunsthändler ein Kabinettstück der stereotyp händereibenden jüdischen Servilität zum Besten. Wo der Roman aber eine eigentliche Semiotik der Hand entwickelt («Händeklatschen …, indem sie die rechte Hand gegen die linke schlugen, als sei die linke ein heimlich gehasstes Wesen, dem sie ins Gesicht schlugen»), weiss der Film nichts von dergleichen.
Film und Wunder
Von den grossen Filmen, die Dreyers Weltruhm begründeten, kann hier nur summarisch die Rede sein: Vampyr (1932), in dem das Fragmentarische, Halbverstandene, Unerklärte dem Horror den Boden erst bereitet, ist eine fantastische Meditation über das verweigerte Sterben, in der der Sensenmann dem Fährmann zu Beginn zwölfmal die Stunde schlägt. Vredens dag (Tag des Zorns, 1943), in dem die Kinderstimmen den Schauder des «Dies irae» vervielfachen, während das tiefe Schwarz, das hier das harte Weiss verschlingt, nicht nur als Gegenstück protestantischen Hexenwahns aus dem frühen 17. Jahrhundert zum spätmittelalterlichen Furor der Inquisition bei Jeanne d’Arc erscheint, sondern ebenso als Gleichnis der Nacht, die sich mit der Nazi-Besetzung über Dänemark gesenkt hat. Exemplarisch dafür ist das Schicksal Annes, die von ihrem religiös verblendeten Ehemann wie von ihrem Stiefsohn und Geliebten verraten wird. In Ordet (Das Wort, 1954), diesem von allem Äusserlichen radikal entkleideten Diskurs über das Wunder, glaubt Johannes, durch zu viel Kierkegaard-Studium wahnsinnig geworden, Jesus zu sein und bringt es durch «das Wort» fertig, die unter fast nicht auszuhaltendem Stöhnen im Kindbett verstorbene Inger vom Tod zu auferwecken. Waren hier die inneren Entwicklungen und Verwandlungen durch beinah endlos lange Momente des «Verharrens» in bezwingende Form gebracht, so versuchte Gertrud (1964) die unbedingte Einforderung von Liebe einer Frau umzusetzen, die sich gegen den platten «Glauben an Fleischeslust und die unheilbare Einsamkeit der Seele» auflehnt: in betont deklamatorisch gesprochenen Dialogen, die mitunter zu eigentlichen Monologen geraten. Zugleich schaffen die erlesen fotografierten Interieurs eine Intimität der Leere, die unverkennbar in Hammershøis Bildwelten gründet. Schliesslich das fast unbegreifliche Wunder La passion de Jeanne d’Arc (1928), ein Meisterwerk der Filmgeschichte, das den Betrachter zutiefst erschüttert, gleichviel wie oft er es schon gesehen haben mag. Wie Dreyer hier Inszenatorisches – entfesselte Kamera (Rudolph Maté, wie danach im «antithetischen» Vampyr), schauspielerische Extremsituation und aufs rein Funktionelle reduziertes Dekor – und geistigen Gehalt zusammenführt, erbarmungslose Kritik an infamer religiöser Ultraorthodoxie und innigstes Glaubensbekenntnis, wurde nicht von ungefähr als Apotheose des Stummfilms empfunden, über die hinaus keine weitere Entwicklung mehr denkbar schien. Unauslöschlich das mediterran-schöne Gesicht Renée («Maria») Falconettis, in dessen Zügen sich schlichte Heilsgewissheit, ein kluger Geist und schreckliche Todesangst zu einem Bild weiblichen Leidens fügen, das noch und noch über die Verschwörung der alten Männer triumphiert.
P.S.
Dass Dreyer durchaus unzimperlich dachte, wenn es um seine Kunst ging, illustriert die Anekdote, die der Kameramann seiner dokumentarischen Kurzfilme, Jørgen Roos, erzählte. Bei der Vorbereitung des Auftragsfilms De nåede færgen (Sie haben die Fähre erreicht, 1948) soll er beim Justizministerium um einen zum Tod verurteilten willigen Kriegsgefangenen ersucht haben, der, sollte er den tödlichen Motorradunfall, den das Drehbuch nach einer Erzählung des Nobelpreisträgers Johannes V. Jensen vorsah, überleben, das Leben geschenkt bekäme. Die Sache sei dann nicht weiter verfolgt worden …
Christoph Egger
Christoph Egger war lange Jahre verantwortlicher Redaktor für Film der NZZ. Seit seiner Pensionierung schreibt er weiterhin auch über Filmisches und mit besonderem Interesse über Skandinavisches.