90 Jahre Agnès Varda
Agnès Varda hat in mehrfacher Hinsicht bahnbrechend gewirkt: für die Nouvelle Vague, für das Filmschaffen von Frauen und für den essayistischen Dokumentarfilm. Doch einfach in eine Strömung einordnen lassen hat sich die Cineastin, die am 30. Mai 90 wird, nie. Als ihre eigene Produzentin wusste sie vielmehr die unabhängige Stellung der kreativen Autorin am Rande der Filmindustrie zu behaupten. Damit wurde sie zu einer der künstlerisch interessantesten Filmregisseurinnen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und darüber hinaus.
Schon zehn Jahre nach der Entstehung von Agnès Vardas La Pointe Courte (1955) bezeichnete der Filmhistoriker Georges Sadoul dieses Debüt als den «tatsächlich ersten Film der Nouvelle Vague». Die 1928 geborene Fotografin Varda gehörte zwar nicht zum Kritikerkreis der «Cahiers du cinéma» mit Rohmer, Truffaut, Godard, Chabrol u. a., aus dem wenige Jahre später jene das Kino radikal erneuernden Filme kommen sollten, die unter dem Namen Nouvelle Vague Geschichte schrieben. Doch ihr Spielfilm La Pointe Courte entsprach bereits den entscheidenden Forderungen dieser Gruppe: Aufhebung der industriellen Arbeitsteilung zwischen Produzent, Drehbuchautor und Regisseur (Varda schrieb selbst das Drehbuch und produzierte den Film im Kollektiv mit den Schauspielern und Technikern), Film als inhaltlicher und gestalterischer Ausdruck einer künstlerischen Autorensicht, schnell und billig ausserhalb der Studios produziert, um den Zwängen der kommerziellen Standards zu entgehen.
Agnès Varda, die sich dabei so wenig wie später von einer «Schule» oder Gruppe vereinnahmen liess, war bei ihrem Erstling kaum vom vorherrschenden Kino beeinflusst, für das sie sich nach eigener Aussage zu jener Zeit noch wenig interessierte. Inspiriert wurde sie vielmehr von der Literatur – zur Struktur des Films habe sie ein Roman von William Faulkner angeregt –, von der Malerei – die Hauptdarstellerin habe sie gewählt, weil sie sie an Figuren der Bilder von Piero della Francesca erinnert habe – und vom Theater, woher sie ihre beiden Protagonisten holte. Der Film bezieht seine Spannung fast ausschliesslich aus dem Nebeneinander zweier kontrastierender Handlungsebenen: Auf der einen, eher neorealistischen, spielen die Fischer von Sète ihr eigenes Leben und ihren Kampf mit den Behörden. Auf der anderen, literarisch dialogisierten, interpretieren Schauspieler in distanzierter Stilisierung die Geschichte eines Paars, in dessen langjähriger Beziehung die Verliebtheit allmählich der Gewohnheit gewichen ist.
Reportage und Künstlichkeit
Als Fotoreporterin brachte Varda die Leidenschaft für die Brisanz der unmittelbar eingefangenen Realität mit und als Hausfotografin von Jean Vilars Théâtre National Populaire, einer der auf- und anregendsten Pariser Bühnen der fünfziger Jahre, war sie bestens vertraut mit künstlerischer Überhöhung und Stilisierung als Mittel der geistigen Konfrontation. «Déjà je sentais deux côtés à chaque chose, le côté des hommes et le côté des femmes, le noir et le blanc, le bois et le fer, le monde de la réalité issu des gens observés et le monde mental où l’esprit vagabonde, invente des structures et des formes» (Agnès Varda, in: Varda par Agnès, Paris 1994): Diese beiden gestalterischen Pole, die bereits ihren – gerade im Rückblick atemberaubenden – Erstling prägen, sollten für Agnès Vardas ganzes Schaffen kennzeichnend bleiben.
In L’Opéra-Mouffe (1958) etwa verbindet sich der dokumentarische Blick mit der Subjektivität der schwangeren Beobachterin, das Ganze zusammengehalten von einem gesungenen Kommentar und gerahmt vom Sich-Heben und Fallen eines Vorhangs. In Cléo de 5 à 7 (1962) bilden die in Realzeit geschilderten Streifzüge durch Paris den dokumentarischen Hintergrund zur Spielhandlung um eine auf ihren medizinischen (Krebs-)Befund wartende und dabei ihr oberflächliches Leben infrage stellende junge Frau. Im kurzen Porträt- und Familienfilm Uncle Yanco (1967) über den Maler Jean Varda schafft die Regisseurin durch die Montage und durch Farbfilter künstliche (und künstlerische) Distanz zur dokumentarischen Darstellung. Obwohl «distanciation» das gängige französische Wort für «Verfremdung» ist, zögert man, den Brechtschen Begriff zu gebrauchen, weil Vardas vergnügliche Brechungen immer mit verspielter Leichtigkeit daherkommen.
In Jacquot de Nantes (1991) nimmt Agnès Varda Abschied von ihrem verstorbenen Ehemann Jacques Demy (1931–1990), indem sie auf dessen Jugenderinnerungen basierende, nachgespielte Szenen in Parallele setzt zu Sequenzen aus seinen Spielfilmen. 2008 blickte die Achtzigjährige in jugendlicher Frische und scheinbarer Unbekümmertheit mit Les plages d’Agnès auf das eigene Wirken zurück und zog eine (wie sich zeigen sollte: vorläufige) Bilanz. In diesem wohl persönlichsten Werk streut Varda zwischen die autobiografischen Erzählungen und Ausschnitte aus ihren früheren Filmen immer wieder Spiel- und sogar Zirkuselemente ein, um ihrem souveränen Jonglieren mit Gedächtnisfetzen jenes Mass an Fiktion zu verleihen, das dem Publikum die unvermeidliche Subjektivität des Unterfangens vor Augen führt.
Es folgten einige kürzere Arbeiten, vor allem für das Fernsehen, bis sie sich 2017 mit Visages villages im Kino zurückmeldete, einem unkonventionell-anregenden Film, den sie gemeinsam mit dem als JR zeichnenden 55 Jahre jüngeren Fotokünstler realisierte. Zu Vardas 90. Geburtstag kommt er Ende Mai auch in die Deutschschweizer Kinos.
Engagiert, aber nicht militant
Paarbeziehungen, Freiheit oder Bindung, Kinder haben (oder sie eben nicht bekommen!), Beruf und Familie: Agnès Varda macht in ihren Filmen deutlich, dass diese Themen durchaus nicht nur den weiblichen Teil der Gesellschaft betreffen, aber sie behandelt sie – was in den 1950er- und 60er-Jahren durchaus noch Seltenheitswert hatte – dezidiert aus der Sicht der Frauen. Das trug ihr fast unvermeidlich das Etikett «Feministin» ein. Am engagiertesten in dieser Richtung ist L’une chante, l’autre pas (1977), ein Film, in dem sich die Themen und Diskussionen seiner Entstehungszeit spiegeln, mit dem ungestümen Engagement und teilweise auch der Naivität der damaligen Frauenbewegung. Doch Vardas Film selbst ist, schaut man genauer hin, keineswegs naiv, sie differenziert, sie setzt z. B. den Anspruch auf Abtreibung gegen die Freude am eigenen dicken Bauch und baut auch gleich noch den Vorwurf ein, Letztere könnte von konservativen Moralaposteln vereinnahmt werden. Mit wohltuender Distanz stellte die Autorin im Rückblick fest, dieser Film sei wohl keine künstlerisch wichtige Etappe in ihrem Werk, und doch sei es ihr wichtig, damals Teil der erstarkenden Frauenbewegung gewesen zu sein.
Fast als Kontrapunkt zu diesem Gemeinschaftstaumel erscheint die Figur der Mona in Vardas folgendem (und wohl erfolgreichstem) Film Sans toit ni loi (1985): eine junge Frau, der ihre Ungebundenheit wichtiger ist als materielle, soziale oder beziehungsmässige Geborgenheit, eine Landstreicherin. Zu einer Zeit, als man allgemein noch ungeniert von Clochards sprach und der Begriff «SDF» (sans domicile fixe) noch weit davon entfernt war, zur politisch korrekten Formel und damit zu einem Teil der allgemeinen Verdrängungsstrategie zu werden, zeichnete Agnès Varda mit grosser Anteilnahme diese Existenz am Rande, die teilweise selbst gewählt ist – und sei es auch nur in Ermangelung erfreulicherer Alternativen. Mona ist eine Ausnahmefigur, auch als Frau unter den Tippelbrüdern; zur Sozial- und Gesellschaftskritik eignet sie sich daher nur bedingt, und doch sagt sie im Kontrast sehr viel aus über das gesellschaftlich Akzeptierte und Etablierte.
Auch in diesem Film arbeitet die Autorin mit neorealistischen Mitteln, um die Handlung glaubhaft zu machen (reale Dekors, nicht professionelle Darsteller für die Nebenrollen), bricht die Illusion aber sogleich wieder, und dies ausgerechnet mit einem pseudodokumentarischen Kniff: durch Erinnerungs-«Statements», die die Nebenfiguren abgeben. Deren Erzählungen und Schilderungen offenbaren vor allem mangelndes Verständnis für die Landstreicherin Mona. Damit unterläuft die Regisseurin geschickt die Irritation des Kinopublikums, dem sie diese kompromisslose Aussenseiterin nahebringt, ohne ihm schlüssige Erklärungen vorzugaukeln. So dient Agnès Varda auch hier das Künstliche (die «Strukturen und Formen») dazu, dem Realen jene scheinbare Selbstverständlichkeit zu nehmen, die ihm im Alltag anhaftet, und es so weit in Distanz zu rücken, dass die künstlerische Darstellung uns nach einem neuen, tieferen Verstehen suchen lässt.
Martin Girod
Martin Girod war von 1993 bis 2005 Koleiter des Filmpodiums der Stadt Zürich. Seither ist er als freier Filmjournalist und Programmkurator tätig.