Ingmar Bergman zum 100. Geburtstag
Am 14. Juli 2018 zelebriert nicht nur Schweden den 100. Geburtstag seines grössten Regisseurs; die ganze Filmwelt feiert Ingmar Bergman und setzt sich mit ihm aufs Neue auseinander. Das Filmpodium zeigt zehn seiner Meisterwerke sowie als Premiere ein Dokumentarfilmprojekt, in dem andere prominente Cineastinnen und Cineasten von ihrem Verhältnis zu Bergmans Schaffen erzählen.
Wer wie Woody Allen Ingmar Bergman als «den grössten Regisseur» bezeichnen möchte, gerät nicht so schnell in Argumentationsnot. Wohl unerreicht ist er in seiner Doppelfunktion als Theater- und als Filmschaffender, auch wenn Luchino Visconti oder Elia Kazan, nicht zu vergessen Peter Brook, in beiden Bereichen Ausserordentliches geleistet haben. Einzigartig ist Bergman aber darin, dass (mit einer Ausnahme) alle seine Filme auf Originaldrehbüchern fussen. Zu den gut vier Dutzend Langfilmen kommen mehr als 170 Theaterinszenierungen sowie um die 50 Hörspielinszenierungen. Er war aber auch Intendant, zweimal des Dramaten, des Königlichen Dramatischen Theaters in Stockholm, der ersten Bühne des Landes. Auf dem Theater, dem seine erste und eigentliche Liebe galt, für das er auch selbst Stücke schrieb, hat er wieder und wieder seine Fixsterne inszeniert: Shakespeare, Molière, Ibsen und – zuerst und zuletzt – Strindberg. Für die Stockholmer Oper hat er 1961 eine umjubelte, vom Komponisten bewunderte Inszenierung von Strawinskys «The Rake’s Progress» geschaffen; ein Ereignis muss auch im Mai 1972 das Gastspiel mit Ibsens «Die Wildente» im Zürcher Stadthof 11 gewesen sein.
Bergman und die Frauen
In Schweden und darüber hinaus war Ingmar Bergman bald einmal eine Figur des öffentlichen Interesses geworden; so wurden die Schockwellen der «Steueraffäre» weltweit registriert, als Steuerfunktionäre, bejubelt von der Linken, ihn Ende Januar 1976 aus den Proben zu Strindbergs «Der Totentanz» im Dramaten heraus abführen liessen (was Ministerpräsident Olof Palme als «Tag der Schande» für Schweden bezeichnete). Diese Aufmerksamkeit war zum Teil «Skandalfilmen» wie Der Sommer mit Monika, Die Jungfrauenquelle und insbesondere Das Schweigen geschuldet, welch letzterer in verschiedenen Ländern zu Zensureingriffen und jedenfalls zu Besucherrekorden geführt hatte.
Spannend las sich aber eben auch der Fortsetzungsroman Bergman und die Frauen. Um nicht von allen diesen Frauen zu reden lautete der Titel seines wenig erheblichen ersten Farbfilms von 1964, doch zu reden gab es in der Tat. Fünfmal war er verheiratet, ohne die mehrjährige Beziehung mit Liv Ullmann zu zählen, der die Tochter Linn entsprang: als neuntes seiner Kinder, die lang kaum voneinander wussten und in einem Fall erst spät erfuhren, wer ihr Vater war. Doch Bergman wäre nicht Bergman gewesen, wenn er dieses Liebeskarussell eben nicht auch künstlerisch zu nutzen verstanden hätte. Auch hier ist erstaunlich, wie er mit einstigen Geliebten jahre-, ja jahrzehntelange Arbeitsbeziehungen pflegte. Der dazu immer wieder nötigen Grossmut von weiblicher Seite windet er ein anrührendes Kränzchen in der Figur der Alma in Fanny und Alexander, die die nebenher gezeugten Kinder ihres munteren Gespons mit in ihr Herz schliesst.
Obwohl Bergman von seiner Theaterarbeit her und in osmotischem Austausch mit ihr auch auf eine Truppe hervorragender männlicher Kräfte zurückgreifen konnte, gilt er nicht von ungefähr als Regisseur par excellence der Frauen. Dabei ging es ihm stets um künstlerische Lösungen. Wenn der vierzehnjährige Jean-Pierre Léaud und sein Kamerad in Truffauts Les quatre cents coups (1959) schulschwänzend und sehnsüchtig vor dem Kinoaushang zu Der Sommer mit Monika stehen, dann repräsentieren sie ein wenig das international vom neuen «Schwedenfilm» (nach Arne Mattssons Sie tanzte nur einen Sommer, 1951) faszinierte Publikum. Harriet Anderssons verführerisch-sinnliche Körperlichkeit wirkt auch heute noch: in der unbekümmerten Nacktbadeszene ebenso wie dort, wo sie wie eine Böcklinsche Nereide über den Bug des Motorboots drapiert liegt, auf dem das junge Liebespaar seinen Schären-Sommer verbringt, und noch mehr dort, wo die beiden Lippe an Lippe rauchen.
Die Schlüsselszene allerdings, die einen verzückten Jean-Luc Godard 1958 dazu bewog, die Bedeutung von Bergmans Film für die Gegenwart mit derjenigen von Griffiths The Birth of a Nation für den Stummfilm gleichzusetzen, die Schlüsselszene tut etwas völlig anderes: Geschlagene 27 Sekunden, eine gefühlte Ewigkeit, lässt Bergman gegen Schluss die Schauspielerin wortlos in die Kamera blicken, nachdem sie zuvor in unübersehbarer Kopulation mit ihrer Zigarette diejenige eines früheren Liebhabers in Brand gesetzt hat und nun nur ganz leicht die Lippen öffnet. Dass die «Schlampe vom Gemüsehändler» Ehemann und Baby sitzen lässt, ist das eine. Skandalöser war jedoch der Durchbruch der vierten Wand zum Publikum hin, das mit dieser Szene zum Komplizen der Titelheldin gemacht wird und ihr nolens volens das Recht auf Selbstbestimmung und Missachtung aller gesellschaftlichen Konvention zubilligt.
Diese Schlüsselszene verweist auf zwei für Bergmans weiteres Werk bedeutsam werdende Aspekte. Der künstlerische besteht in der Bedeutung des Gesichts für die Wahrnehmung des Films: als tendenziell ins Ewige ausgreifender Augen-Blick – das aus der Theaterarbeit entwickelte Credo des «Jetzt! Jetzt!» – und als Projektionsfläche, auf der es sich mit andern Gesichtern paart, mit ihnen ineinsfliesst und schliesslich zum «zweiten Gesicht» wird. Geboren am 14. Juli 1918 war Ingmar Bergman ein Sonntagskind und gemäss schwedischem Volksglauben daher mit der Fähigkeit des Hellsehens begabt. Zumal die Toten werden in seinen Filmen zunehmend vertraute Erscheinungen, wobei sich Fanny und Alexander den schön ironischen Scherz erlaubt, Alexander nicht nur den Geist des geliebten verstorbenen Vaters erscheinen zu lassen, sondern eben auch den des gehassten, qualvoll im Höllenbrand verendeten Stiefvaters, des sadistischen Bischofs Vergérus.
Doch nicht umsonst endet der Film mit der Vorbereitung von Strindbergs «jüngstem Stück», mit dem das Theater wiedereröffnet werden soll, nun unter der Leitung der Frauen, die ohnehin schon den ganzen Film über das starke Geschlecht waren. Die «Erinnerung», mit der «Ein Traumspiel» anhebt, formuliert das künstlerische Prinzip Ingmar Bergmans, der das Stück viermal für die Bühne inszeniert hat, auch für seine Filme: den «Versuch, die unzusammenhängende, aber scheinbar logische Form des Traums nachzubilden. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht. […] Die Personen spalten sich auf, verdoppeln sich, vertreten einander, verflüchtigen sich, verdichten sich, zerfliessen, sammeln sich wieder.» Persona wird diese Prozesse erstmals künstlerisch radikal neu denken.
Harriet Anderssons Auftritt in Der Sommer mit Monika sollte aber auch den Auftakt zu jenen «lebenslangen» Explorationen bilden, denen Bergman das Bild seiner Lieblingsschauspielerinnen von nun an unterzog. Zwanzig Jahre später sehen wir sie, wie sie, noch immer schön, als krebskranke Agnes in Schreie und Flüstern keuchend, krächzend, gurgelnd ihren unerträglichen Schmerz herausschreit, bis sie endlich stirbt, was genau in der Filmmitte geschehen wird. Fassungslos dann allerdings das Entsetzen der Schwestern, als sie als Tote noch um Zuwendung bettelt. Ingmar Bergman hat in Bezug auf die vier Frauen in Weiss davon gesprochen, dass sie «vier Aspekte meiner Mutter verkörperten». Und hinsichtlich des Rots als Grundton der Erzählung sagte er, dass er als Kind sich die «Innenseite der Seele als feuchte Haut in roten Tönen vorgestellt» habe. Wiederum zehn Jahre später werden wir Harriet Andersson in Fanny und Alexander sehen, nun als verhärmtes, erbärmliches Geschöpf, das umgehend dem Bischof verrät, was ihm die Kinder im Vertrauen erzählt haben.
Fabelhaftes Quintett
Älteste des Quintetts an «leading ladies» ist Ingrid Thulin. Auch sie hat – in Das Schweigen – eine ihrer stärksten Rollen als Krebskranke, deren Schmerzattacken für den Betrachter kaum auszuhalten sind. Es ist Bergmans schönster Film, ein Meisterwerk der klassischen Moderne, ein Film, vor dem heute der damalige Aufruhr völlig unverständlich erscheint. Thulin hat aber auch eine ungemein sexy Art, die Zigarette zwischen den entblössten Zähnen zu halten – ansatzweise auch schon in Wilde Erdbeeren, wo sie in ihrem eleganten Hosenanzug eine blendende Erscheinung abgibt. Nicht von ungefähr hatte Bergman die Rolle der heidnischen Ingeri in Die Jungfrauenquelle, die zu Beginn zu Odin betet, mit der wilden Gunnel Lindblom besetzt, und nicht von ungefähr diejenige von Thulins sexuell umgetriebener Reisegefährtin in Das Schweigen ebenfalls mit dieser von innerem Feuer lodernden Schauspielerin. Bibi Andersson hingegen schien die Rolle der bezaubernd naiven hübschen jungen Frau für immer auf den adretten Leib geschrieben – von Das Lächeln einer Sommernacht über Das siebente Siegel und die wunderbare Doppelrolle der Sara in Wilde Erdbeeren –, bis Persona ihr neben Liv Ullmann, die als verstummte Schauspielerin Elisabet Vogler hier mit einem Paukenschlag die Bühne des Weltkinos betrat, endlich die Gelegenheit zur Erweiterung ihres Spektrums gab.
Selten dürfte der Begriff «nächtliches Gesicht» in seiner Doppelbedeutung eine vergleichbar suggestive Auslegung erfahren haben wie hier. Und so bleibt das filmische Werk des Magus des Nordens ebenso mit ikonischen Bildern verbunden – dem Ritter, der in Das siebente Siegel an einer schwarzen Felsenküste mit dem Tod den Kampf am Schachbrett aufnimmt, der Pietà-Figur, die der Sterbenskranken in Schreie und Flüstern etwas Linderung gewährt – wie mit eben mit diesen Forschungsreisen in die Gefilde der Selbstergründung, der Umnachtung und der Nacht.
Christoph Egger
Christoph Egger war lange Jahre verantwortlicher Redaktor für Film der NZZ. Seit seiner Pensionierung schreibt er weiterhin auch über Filmisches und mit besonderem Interesse über Skandinavisches.
Der neue Dokumentarfilm Searching for Ingmar Bergman läuft ab dem 19. Juli im Kino Kosmos.
Im Filmpodium ist das dokumentarische Projekt Trespassing Bergman als Film und als Serie zu sehen.
Und hier finden Sie schöne Bergman-Parodien.