Luis Buñuel – Das Frühwerk
Luis Buñuel (1900–1983) war eine der prägendsten Regiepersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Mit Un chien andalou (1929) und L’âge d’or (1930) wurde er zum Vater des surrealistischen Kinos, doch der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs unterbrach seine Laufbahn und führte ihn via USA nach Mexiko, wo er erst 1946 wieder selber Regie führen konnte.
Denen würde er es zeigen! Seit 1924 befand sich der junge Luis Buñuel in Paris, doch so sehr er die Surrealisten bewunderte, kennengelernt hatte er die Gruppe noch nicht. Zusammen mit einem Freund, dem Maler Salvador Dalí, schrieb er Anfang 1929 ein Drehbuch, das auf ihren Träumen beruhte und aus dem sie systematisch alles eliminierten, was sich rational erklären oder als Symbol deuten liess.
So einen Film hatte es noch nie gegeben. Um das Publikum zusätzlich zu verwirren, nannten sie ihn Un chien andalou. Ein Hund kam darin natürlich nicht vor. Stattdessen sah man schon in den ersten Minuten, wie Buñuel persönlich ein Rasiermesser schärfte und dann damit das Auge einer jungen Frau aufschnitt. Später begrapschte ein Mann die Brüste der wieder zweiäugigen Frau. Als er ihr noch dichter auf den Leib rücken wollte, hinderten ihn Seile daran, an denen Priester und zwei Konzertflügel mit Eselkadavern hingen.
Der Film sei konzipiert worden als «ein verzweifelter, leidenschaftlicher Aufruf zum Mord», schrieb Buñuel später. In Erwartung eines Skandals und um sich gegen seine Gegner wehren zu können, stopfte der junge Regiedebütant die Taschen voller Steine. Zu seiner grossen Verwunderung wurde der Film jedoch bejubelt; der Surrealisten-Papst André Breton erteilte Buñuels Werk gar die höheren Weihen und nahm den Autor in den erlauchten Kreis auf.
Der Surrealismus war zunächst keine ästhetische, sondern eine philosophische Bewegung, die sich aus dem Dadaismus entwickelt hatte. Sie wollte die Vorherrschaft der bürgerlichen Vernunft brechen, indem sie dem Unbewussten den Vorrang gab. Leben und Traum seien «kommunizierende Röhren», schrieb Breton, wobei nicht immer klar sei, was den höheren Wirklichkeitsgrad habe.
Solche Gedanken fielen beim ehemaligen Jesuitenschüler Buñuel, der mit 16 Jahren vom katholischen Glauben abgefallen war, auf fruchtbaren Boden: Der Surrealismus wurde für ihn eine Art Religionsersatz. Gleichzeitig gibt es keinen anderen Filmregisseur, dessen Werk so von christlichen Dogmen durchtränkt ist, wie Luis Buñuel.
Geboren wurde er am 22. Februar 1900 in der Stadt Calanda in Aragonien. Alles sprach dafür, dass er zu einem «señorito» herangezogen werden sollte, einem jungen Mann der Oberschicht, der vom Vermögen der Familie leben konnte. Doch Luis wollte studieren, zog nach Madrid, wo er sich in einem Studentenheim mit Leuten wie dem Schriftsteller Federico García Lorca und dem Maler Salvador Dalí anfreundete. Nach naturwissenschaftlichen Fächern wie Agrartechnik und Entomologie verlegte er sich auf das Studium der Philosophie und der Literatur.
Von Paris nach Mexiko
Ein Jahr nach dem Tod des Vaters zog er 1924 nach Paris, wo er unter anderem als Regieassistent von Jean Epstein arbeitete. Un chien andalou trug seinem Regisseur nicht nur die Aufnahme in den Kreis der Surrealisten ein, sondern führte bald auch zur Entfremdung von diesen, denn der Film lief neun Monate lang in einem Kino – und kommerzieller Erfolg war André Breton ein Gräuel.
Buñuels nächster Film L’âge d’or (1930) wurde dann glücklicherweise ein Skandal und vom Polizeipräfekten verboten. In Spanien drehte der Regisseur 1933 Las Hurdes, einen Dokumentarfilm über eine der ärmsten Gegenden Spaniens, der prompt von der Regierung verboten wurde – von den Dreharbeiten dazu handelt der Animationsfilm Luis Buñuel en el laberinto de las tortugas. Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs wurde Buñuel von den Republikanern nach Hollywood geschickt, wo er spanische Synchronfassungen herstellte. Eigene Filme machen konnte er aber erst wieder 1946, nachdem er mit seiner vierköpfigen Familie nach Mexiko gezogen war.
Zunächst drehte er dort billig gemachte, kommerzielle Filme, in denen viel getanzt und gesungen wurde. Doch im Lauf der Zeit vermochte er auch in diese Filme Bilder und Traumsequenzen hineinzuschmuggeln, die wir heute als buñuelesk bezeichnen. Los olvidados (1950) schliesslich ist ein realistisches Drama über verwahrloste Kinder. Unvergesslich jedoch bleibt der Albtraum, in dem eine Mutter ihrem Sohn ein bluttriefendes Stück Fleisch anbietet. In Cannes wurde Buñuel für Los olvidados nach 18 Jahren Unsichtbarkeit als bester Regisseur ausgezeichnet.
Thomas Bodmer
Thomas Bodmer ist Herausgeber, Journalist und Übersetzer und war lange Jahre Mitglied der Filmredaktion des «Züritipp». Die Fortsetzung seines Textes publizieren wir mit dem 2. Teil unserer Buñuel-Retrospektive im November-Dezember-Programmheft.