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Black Light

Die diesjährige Retrospektive des Filmfestivals Locarno widmete sich unter dem Titel «Black Light» dem internationalen Black Cinema, zeigte aber nicht nur Filme von Schwarzen. Kurator Greg de Cuir Jr schildert nachstehend die Überlegungen, die ihn bei Auswahl und Zusammenstellung der Filme geleitet haben. Das Filmpodium zeigt mehrheitlich Filme, die in Locarno zu sehen waren. Einzelne Filme wurden gegen andere Raritäten ausgetauscht, die im Schein des «Black Light» hier erstmals zutage treten. English text below.

Als Erstes umreisse ich die Grundregeln für diese Retrospektive über das, was ich als «internationales Schwarzes Kino» bezeichne. Schon das Wort «retrospektiv» impliziert eine Rückschau; manche Wörterbücher definieren es auch als «rückwirkend». Daher geht es mir nicht um das 21. Jahrhundert oder das, was wir hier «die Gegenwart» nennen könnten. Der Autor L. P. Hartley schrieb: «Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln.» So ist es, und diese Retrospektive ist für alle gedacht, die gerne reisen, für alle, die kulturelle Unterschiede schätzen, für alle, die offen für Entdeckungen sind.
Bei ihren Erkundigungen orientiert sich diese Retrospektive an der allgemeinen Route der Middle Passage, des traditionellen Sklaventransportwegs, die als Demarkationslinie dient. Ich beschäftige mich hier mit den Lebensumständen und Kulturen der Schwarzen Völker, dort, wo wir «in die Zivilisation geworfen worden sind, (...) ohne dass wir diesbezüglich gefragt worden wären», wie der Philosoph Vilém Flusser geschrieben hat. Daher ist diese Retrospektive vielstimmig; sie ist ein Ausgangspunkt, ein Angebot und keine Schlussfolgerung. Gehen Sie nicht auf der Suche nach Antworten an sie heran. Ein weiteres sehr wichtiges Prinzip beim Aufbau dieser Retrospektive war es, die vorherrschende Definition und Auffassung von Black Cinema aufzubrechen und zu versuchen, etwas Breiteres und Gemeinschaftlicheres anzubieten. Angeregt vom Theoretiker Michael Gillespie und einem kürzlich erschienenen Manifest, das er zusammen mit Racquel Gates verfasst hat, meine ich, das Schwarze Kino könne nicht auf die schlichte Repräsentationsvorstellung von einem Schwarzen Körper hinter oder vor der Kamera beschränkt werden. Das Schwarze Kino kann und sollte gemäss ästhetischen, politischen und ethischen Kriterien diskutiert und muss in Bezug auf Kameraleute, Drehbuchautorinnen und Produzenten betrachtet werden. Was die Filmkünstler betrifft, insbesondere die Regisseurinnen und Regisseure, so zielt diese Retrospektive auf Chancengleichheit ab, darauf, Menschen in einen Dialog zu bringen, die sich normalerweise nicht auf Augenhöhe begegnen durften. Sie durften das nicht, weil das Kuratieren von Filmen eine Kampfarena ist, weil das Kino als Dispositiv in aller Regel ein nach Rassen getrennter Raum ist. Von einer Retrospektive des Schwarzen Kinos könnte man erwarten, dass sie ein Ghetto für Schwarze Regisseure schafft, das nie überwunden werden kann. Es ist aber höchst aufschlussreich, einen Spencer Williams mit einem Joseph Mankiewicz, eine Julie Dash mit einer Shirley Clarke, einen Melvin Van Peebles mit einem Jules Dassin, eine Euzhan Palcy mit einem Jean Rouch in einen Kontext zu stellen. Dass Schwarzen Filmschaffenden normalerweise keine Plattform gewährt wurde, die sie mit den «Meistern» des internationalen Kinos teilen konnten, ist ein Verlust für die Filmgeschichte und erst recht ein analytischer Irrtum.

Der Ausgangspunkt: Oscar Micheaux
Wo beginnt man, wenn man versucht, eine Geschichte des internationalen Schwarzen Kinos aufzubauen? Was will das Publikum wissen, im Vergleich zu dem, was es wissen muss? Das sind politische und ethische Fragen von grosser Tragweite. Diese Retrospektive kann sie vielleicht nicht ansprechen, denn sie kann wahrscheinlich nicht als historiografische Arbeit gelten. Ich möchte sie eher als historische Collage bezeichnen. Sie ist ganz bestimmt eine persönliche Reise, zu der Sie alle eingeladen sind, damit Sie eigene persönliche Reisen gestalten können. Wie der Titel schon sagt, ist diese Retrospektive als «Licht» konzipiert, das Ihnen im Idealfall neue Wege durch die Filmkunst weist. Sie geht aus von einem theoretischen Anfang, Oscar Micheaux, dem weltweit ersten Schwarzen Regisseur von Langfilmen. Within Our Gates (1920), der zweite Film, den er gedreht hat, ist das früheste erhaltene seiner Werke. 1993 wurde die einzige existierende Kopie in Spanien gefunden, wo man den Film zu La negra umbenannt hatte. Es mutet erstaunlich an, dass in diesem Gründungsmoment ein Langfilm eines Schwarzen Regisseurs nach Europa verkauft und dort vertrieben wurde. Es ist zweifellos eine Schande, dass im 21. Jahrhundert der internationale Marktwert brillanter Arbeiten Schwarzer Filmschaffender nach wie vor in Frage gestellt wird. In den Jahren seit dem Wiederauftauchen seines Films wurde Micheaux in Kritikerkreisen von Neuem entdeckt und in den historischen Kanon eingefügt – zu Recht, denn er war eine bahnbrechende Kraft.
Wir können uns Within Our Gates ansehen und seine Kühnheit und Neuartigkeit würdigen; womöglich verlangt man von uns auch, ihn anzusehen und seine historische Bedeutung zu erkennen. Wer ihn sich ansieht, blickt in das Buch Genesis des internationalen Schwarzen Kinos. Man beachte, dass der Titel des Films tatsächlich eine Anspielung auf das 5. Buch Mose im Alten Testament darstellt, insbesondere auf Kapitel 5, Vers 14, der besagt, dass der «Fremdling, der in deinen Toren ist», ruhen soll wie du, also Schutz und Gleichbehandlung erfahren soll. Dies ist ein moralischer Imperativ, der bis heute Gültigkeit hat. Bemerkenswert ist auch, dass der französische Name Micheaux sich aus dem alten Vornamen Michael herleitet, der aus dem Hebräischen stammt und «Wer ist wie Gott?» bedeutet. Die Frage ist rhetorisch, aber fordert zum Handeln heraus. Mit der Aufnahme von Within Our Gates in die Reihe feiert «Black Light» faktisch 100 Jahre Schwarzes Kino in Spielfilmlänge – aber diese Feier soll auch eine Lehre sein.

Traditionund Disruption
Diese Retrospektive konzentriert sich auf jene Filmschaffenden, die in fiktionalen, narrativen Formen arbeiten. Das abendfüllende Format hat ja, historisch gesehen, mehrheitlich dem Erzählen von Geschichten gedient. Gleichzeitig macht es auch den Anschein, dass die Spielfilmindustrie am meisten Widerstand gegen offene Formen und anti-traditionelle Ideale leistet. Demzufolge bildet die erzählende Fiktion die grösste Front im Kampf um die Befreiung des Films von reaktionären ideologischen Zwängen. Aber das bedeutet auch, dass der Ort mit dem grössten disruptiven Potenzial für revolutionäre Formen und Inhalte die erzählende Fiktion ist. Diese Retrospektive ist eine Suche nach diesem Potenzial und ein lehrreicher Weg zu dessen Umsetzung in den Filmkünsten der Zukunft. Der Kulturkritiker Stuart Hall hat geschrieben, dass das Kino nicht als Abbild des Bestehenden gedacht werden solle, sondern als eine Form von Repräsentation, die ein Volk als neue Subjekte konstituiere und die es ermögliche, Orte zu entdecken, von denen aus gesprochen werden könne; und überdies, dass die Berufung der modernen Schwarzen Kinos darin bestehe, uns zu ermöglichen, die verschiedenen Teile und Geschichten von uns selbst zu sehen und zu erkennen, um Identifikationspunkte und Positionalitäten zu konstruieren, die wir kulturelle Identitäten nennen. Ich kann mir keine erhabenere Beschreibung oder Begründung für die Berufung des Kurators vorstellen und keinen höheren Massstab für die herausragenden Werke, die hier gezeigt werden.

First, the ground rules for organising this retrospective on what I am calling «international Black cinema». The very word «retrospective» implies a looking back; some standard dictionaries call it «applying to the past». As such, I was not concerned with the twenty-first century or what we might call, for our purposes here, «the present». The author L.P. Hartley once wrote: «The past is a foreign country; they do things differently there.» Yes, they do, and this retrospective is made for those that love to travel, for those that appreciate cultural difference, for those who are open to discovery.

The lines of inquiry for this retrospective were drawn along the general route of the Middle Passage as a demarcation. I am concerned here with the conditions and cultures of Black peoples where we have been «thrown into civilization … without anyone asking us for our permission», as the philosopher Vilém Flusser wrote. Therefore, this retrospective is polyphonic; it is a starting point, a proposal, rather than a conclusion. Do not approach it seeking answers. Another very important principle in constructing this retrospective was to crack open the prevailing definition and conception of «Black cinema» and to try to offer something more wide-ranging and communal. Taking inspiration from the theoretician Michael Gillespie and a recent manifesto he co-wrote with Racquel Gates, I argue that Black cinema cannot be limited to the simple representative notion of a Black body behind the camera or in front of it. Black cinema can and should be discussed in terms of aesthetics, politics, ethics; it needs to be considered in relation to cinematographers, screenwriters, and producers. On the subject of film artists, specifically directors, this retrospective aims to even the playing field and to put people in dialogue who have not normally been allowed to meet on the same terms; they have not often been allowed to meet because film curating is a site of struggle, because the very «cinéma dispositif» is regularly a segregated space. It would be expected for a Black film retrospective to make a ghetto for Black directors that can never be transcended. There is a lot to gain from contextualising a Spencer Williams with a Joseph Mankiewicz, a Julie Dash with a Shirley Clarke, a Melvin van Peebles with a Jules Dassin, an Euzhan Palcy with a Jean Rouch. That Black directors have not normally been given a platform to share with the «masters» of international cinema is to the detriment of film history, not to mention an analytical fallacy.

Where does one begin when one attempts to build a history of international Black cinema? What do audiences want to know, vis à vis what they need to know? Those are political and ethical questions, and they are large ones. This retrospective may not be able to address them, because this retrospective is probably not a work of historiography. I might rather call this retrospective a historical collage. It is certainly a personal journey, which you all are invited to partake in, thereby crafting your own personal journeys. Like the title indicates, this retrospective is designed as a guiding light that will ideally lead you to new paths through the art of cinema. The retrospective starts at a theoretical beginning, with Oscar Micheaux, the first Black director of feature-length films anywhere in the world. Within Our Gates (1919) is the earliest surviving film in his oeuvre, and the second film he shot. In 1993 the only print in existence was found in Spain, where it had been retitled La Negra. It seems amazing that at this foundational moment a feature-length film by a Black director was sold and distributed in Europe. It is certainly a shame that in the twenty-first century brilliant work done by Black directors is still questioned in terms of its validity on the international market. In the ensuing years after his film’s resurfacing Micheaux has been rediscovered in critical circles and inserted into the historical canon – and rightfully so, for the pioneering force that he was. We might be able to watch Within Our Gates and appreciate its audacity and novelty; we might also be implored to watch it and recognise its historical significance. When you watch it you are watching The Book of Genesis for international Black cinema. It should be noted that the title of the film is actually a reference to the Book of Deuteronomy in the Old Testament, particularly chapter 5 and verse 14, which instructs that ‘the stranger within thy gates’ should rest alongside you, meaning to be granted shelter and treated as an equal. This is a moral law that has continued resonance today. It should also be noted that Micheaux is a French name derived from the ancient given name Michael, which comes from Hebrew, and whose etymology is structured as a question: who is like God? The question is rhetorical, but also a challenge to action. The inclusion of Within Our Gates effectively turns Black Light into a celebration of 100 years of feature-length Black cinema – but let that celebration be also a lesson learned.

This retrospective highlights those film directors working in fictional, narrative modes. This is because the feature-length format, historically speaking, has most often supported the telling of tales. If so, it also seems that the largest site of resistance to open forms and anti-traditional ideals would be the industry surrounding narrative fiction films. That means the largest front in the battle to liberate film from reactionary ideological constraints is on the shores of narrative fiction. But that also means the site with the most disruptive potential for revolutionary form and content is narrative fiction. This retrospective is a search for that potential and an instructive path toward realising it in the cinematic arts yet to come. The cultural critic Stuart Hall wrote that cinema should be thought not as a reflection of what already exists but as a form of representation that constitutes a people as new subjects, enabling a discovery of places from which to speak; and furthermore, that the vocation of modern Black cinemas is to allow us to see and recognise the different parts and histories of ourselves to construct points of identification and positionalities that we call cultural identities. I can think of no loftier description or rationale for the vocation of the curator, and no greater measure for these fine works on display.

Weitere «Black Light»-Filme von Interesse:

Borderline Kenneth MacPherson GB 1930 (wird im Stummfilmfestival 2020 zu sehen sein)
Daïnah la métisse Jean Grémillon, Frankreich 1931
Odds Against Tomorrow Robert Wise, USA 1959
La noire de... Ousmane Sembène, Senegal/Frankreich 1966 (lief 2017 im Filmpodium)
Symbiopsychotaxiplasm Take One William Greaves, USA 1968
Baldwin's Nigger Indra Ové, GB 1968 (link)
Appunti per un'Orestiade africana Pier Paolo Pasolini, I 1970
Sweet Sweetback's Baadasssss Song Melvin Van Peebles, USA 1971
Ganja & Hess Bill Gunn, USA 1973
De cierta manera Sara Gómez, Kuba 1977
Killer of Sheep Charles Burnett, USA 1978 (lief 2018 im Filmpodium)
West Indies Med Hondo, Frankreich/Algerien/Mauretanien 1979
Babylon Franco Rosso, GB 1980
Amor maldito Adelia Sampaio, Brasilien 1984
Classified People Yolande Zauberman, Frankreich 1987
Aboliçao Zozimo Bulbul, Brasilien 1988
A Dry White Season Euzhan Palcy, USA 1989
To Sleep with Anger Charles Burnett, USA 1990
Daughters of the Dust Julie Dash, USA 1991 (lief 2017 im Filmpodium)
Juice Ernest Dickerson, USA 1992
Eve's Bayou Kasi Lemmons, USA 1997
Greg de Cuir Jr

Greg de Cuir Jr ist unabhängiger Kurator, Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Belgrad.