Hal Hartley
Das amerikanische Independentkino der letzten dreissig Jahre wurde von mehreren Filmschaffenden geprägt, aber kaum einer war so eigenwillig wie Hal Hartley. Seine aphoristischen Dialoge, sein witziges Spiel mit Genres und Klischees und seine stets leicht abgehobenen Figuren machen seine Filme unverwechselbar – und zu einem grossen Vergnügen.
In den 1980er- und 1990er-Jahren war Hal Hartley eine der zentralen Figuren jener neuen Generation von Filmschaffenden, die für einen Höhenflug des unabhängigen US-Autorenkinos sorgten. Während einige ihrer Vertreter wie etwa Steven Soderbergh später zum Mainstreamkino wechselten und so von traditionellen Produktionsstrukturen abhängiger wurden, blieb Hartley dem Geist des Independent-Kkinos treu. Oftmals nahm er Budgetkürzungen in Kauf, um seine künstlerische Souveränität zu bewahren. Er verbog sich nicht für andere, und an Publikumserwartungen orientierte er sich höchstens, um diese zu unterlaufen. «Heute ist mir klar, dass ich mich damit hätte auseinandersetzen sollen, um mehr Erfolg zu haben. Aber ich glaube, dass ich so erfolgreich war, wie ich sein musste», sagt er. Und fügt hinzu: «Ich habe immer geglaubt, dass mein Interesse für den Film sich von dem anderer Menschen nicht wesentlich unterscheidet und dass das Publikum ebenfalls daran interessiert ist, Menschen zu begegnen, die anders sind als sie selbst.»
Trouble and Desire
Diese Haltung zeigt sich wiederholt in den Figuren seiner Filme: Ein Literaturprofessor prügelt sich in Surviving Desire (1992) mit einem seiner Studenten, weil dieser Dostojewski nicht mag, in Amateur (1994) schreibt eine Ex-Nonne pornografische Kurzgeschichten, und die Titelfigur von Henry Fool (1997) ist ein verurteilter Sexualstraftäter. In den Fokus rücken Figuren fernab des amerikanischen Traums – getrieben von Ärger und Begehren. Und trotzdem oder gerade deswegen hatte Hal Hartley von seinem ersten Film an Kultstatus. Er ist Regisseur, Drehbuchautor, Cutter, Produzent, Filmmusikkomponist und Selbstvermarkter. Sein Werk umfasst nicht nur Schlüsselfilme des US-Independentfilms, sondern ist ein noch nicht zu Ende geschriebenes Kapitel in der Geschichte des amerikanischen Autorenfilms.
Hartley eroberte innert kürzester Zeit die Herzen einer Generation von Filmbuffs. Sein Frühwerk hatte einen wesentlichen Einfluss auf den Indiefilm-Boom und die Werke, die in der Folge daraus entstanden. So dankt etwa der Indie-Ffilmer Kevin Smith im Abspann von Clerks (1994) vor Richard Linklater, Spike Lee und Jim Jarmusch an erster Stelle Hal Hartley dafür, ihm «den Weg zu weisen». Mit seinem für nur 75 000 US-Dollar und in weniger als zwölf Tagen gedrehten satirischen und formal präzisen Debütfilm The Unbelievable Truth landete Hartley 1989 am Toronto Film Festival einen Überraschungshit. Das Filmteam und die Darstellerinnen und Darsteller heuerte er weithin in seinem privaten und universitären Freundeskreis an. Den Preis für das beste Drehbuch gewann er zwei Jahre später mit Trust, der heute als einer der wichtigsten US-Indiefilme gilt. Trockener «deadpan»-Humor zum einen, philosophische Sätze zum anderen. Seiner weiblichen Hauptfigur legt er Zeilen wie «Ich heirate dich, wenn du zugibst, dass Respekt, Bewunderung und Vertrauen gleich Liebe ist» in den Mund. Seine lakonische Ironie unterwandert die Dramatik. Hartley möchte, dass das Publikum gleichzeitig fühlt und denkt. Simple Men, 1992 in Cannes im Wettbewerb, erklärte der Filmwissenschaftler David Bordwell zum Paradebeispiel für Hartleys eigentümlichen Stil, der sich durch die Auseinandersetzung mit etablierten Kinostilrichtungen entwickelt hat und von Jean-Pierre Melville, dem späten Fassbinder, Dreyer oder Godard beeinflusst ist. Letzteren lässt er in seinem Kurzfilm Accomplice (2010) zu Wort kommen.
1991 drehte Hartley für den nichtkommerziellen US-Fernsehsender PBS die unkonventionelle Romantikkomödie Surviving Desire, die später zusammen mit den Kurzfilmen Theory of Achievement und Ambition auf VHS-Kassette erschien und in dieser Retrospektive erstmals neu restauriert und digitalisiert auf der grossen Leinwand zu sehen ist. Hartley krempelt mit choreografierter Körperlichkeit das Innenleben seiner Figuren nach aussen. In Surviving Desire drückt der soeben geküsste Dozent Jude seine Freude durch einen leichtfüssigen Tanz aus, der in einer verhängnisvollen Pose endet. Auch in Simple Men wird abgetanzt. Hartley schreckt nicht davor zurück, seinem Publikum die Künstlichkeit des Films in Erinnerung zu rufen – auch verbal, indem er zum Beispiel eine Dialogzeile mehrmals wiederholen lässt. Formal zeichnen sich seine Filme durch anti-naturalistisches Schauspiel, Ellipsen, philosophische und absurde Dialoge, rhythmischen Schnitt, stilisierte Farben und den Verzicht auf Establishing Shots aus. Die örtliche Beschränktheit in seinen Filmen erzählt nicht nur viel über seine Figuren und deren gesellschaftliches Umfeld, sondern auch über die begrenzten filmischen Möglichkeiten, die das unabhängige Filmemachen mit sich bringt und die sich typischerweise in zweckmässigen Nah- und Grossaufnahmen zeigent.
Experimentelles und Episches
Von seinem Frühwerk nabelt sich Hartley 1994 mit Amateur ab. Er begibt sich in weitläufigere Gefilde und verpflichtet auch eine internationale Schauspielgrösse: Isabelle Huppert, die gleich selber bei Hartley um eine Rolle gebeten hatte. Seine Musen Adrienne Shelly und Parker Posey lässt er im selben Jahr im Musical-Kurzfilm Opera No. 1 als Feen auf Rollschuhen das Liebesleben von Sterblichen aufmischen. Flirt (1996) spielt in New York, Berlin und Tokio und erzählt die gleiche Story dreimal mit jeweils unterschiedlichen Darstellerensembles. Es ist sein persönlichster Film, ein Experiment, gespickt mit selbstreflexiven Kommentaren. The Book of Life (1998) ist sein erster längerer Film, den er auf Digital-Video gedreht hat. Von impressionistischen Verzerrungseffekten über Verpixelung bis hin zum Umschalten vom farbigen zum schwarzweissen Bild nutzt er auf erfrischende Weise die Möglichkeiten der damals neuen Technik. An jene bislang ungewohnte Videoästhetik in Hartleys Schaffen schliesst sieben Jahre später sein avantgardistischer Science-Fiction-Film The Girl from Monday (2005) an.
Henry Fool, Hartleys Meisterwerk, wurde 1998 in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Mit Fay Grim (2006) und Ned Rifle (2014) hat er ihn seither zu einer Trilogie erweitert, die das Publikum nicht nur in die Probleme und Abenteuer der Familie Grim einweiht, sondern auch tief in die amerikanische Gesellschaft blicken lässt. Ned Rifle liess sich bei einem Budget von 386 000 US-Dollar vollständig von Hartleys internationaler Fangemeinde über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanzieren und gewann an der Berlinale den Preis der Ökumenischen Jury.
Von 2005 bis 2010 lebte Hartley in Berlin. Neben der Inszenierung von Fay Grim und Recherchen über die französische Philosophin und Sozialrevolutionärin Simone Weil arbeitete er hauptsächlich an der Film-Oper «La Commedia». Daneben realisierte er mehrere «Berliner» Kurzfilme, unter anderem seinen Tagebuchfilm A/Muse (2010), in dem er sich mit seinem Entscheid befasst, in die USA zurückzukehren. Hartley fühlt sich lebendiger, wenn er Filme macht. Deshalb wird er dem Filmemachen treu bleiben, auch wenn er nicht mehr die Leuchtfigur des Independentkinos ist, die er Anfang der 1990er-Jahre war.
Lorenzo Berardelli
Lorenzo Berardelli ist freier Filmkurator.
Die Zitate im Text stammen aus einem Interview, das er mit Hal Hartley in Hinblick auf diese Retrospektive schriftlich führen konnte. Die Retrospektive wurde vom tba-filmcollective.allyou.net (Lorenzo Berardelli, Federico Chavez, Marc Frei, Stéphanie Meier und Natalia Schmidt) kuratiert und zu wesentlichen Teilen mitorganisiert.