Éric Rohmer
1951 veröffentlichte Éric Rohmer (1920–2010) seinen ersten Artikel in den neu gegründeten Cahiers du cinéma. Ab 1962 widmete er sich ganz dem Filmemachen und realisierte bis 2007 über zwei Dutzend Filme, die er oft in Zyklen – etwa «Contes moraux» oder «Comédies et proverbes» – zusammenfasste. Wir zeigen seine schönsten Filme, in denen sich Lebensfreude und Melancholie subtil die Waage halten und die auf magische Art natürlich wirken.
Bei ihm bleibt die Liebe nicht, wo sie war. Sie fängt als Vorsatz an, aber dann entpuppt sie sich als sprunghaft. So gern seine Figuren ihre Gefühle auch kontrollieren würden, immer ist das Leben listiger als die Strategien, die sie sich ausdenken. Eine Verliebtheit gebiert die nächste. Stets kommt die Verführung der Wahl in die Quere.
Bei Éric Rohmer sind Liebe und Sehnsucht ein Plan, der glücklich scheitert. Er versteht es, das Einfache plötzlich kompliziert werden zu lassen. In seinen frühen Filmen führen die Hauptfiguren unweigerlich die Vokabel «Moral» im Munde. Sie wähnen sich ihrer Entscheidungen sicher. Aber auch die Moral bleibt nicht dort, wo sie war: Sie ist kein sittliches Prinzip, sondern eine Lehre, die aus der Erzählung zu ziehen ist. Manchmal liegt sie auch einfach in der Anmut der Gesten, Gedanken und Worte.
Denn für den französischen Regisseur entfalten die Gefühle ihre filmische Aura erst in der Reflexion. Das Wort fungiert als ihr Ersatz, ihre Verdopplung oder ihre Rekonstruktion. Dass die Konversation im französischen Kino zu einer eigenen, gar dominierenden Kategorie des Handelns wurde, ist vor allem diesem Filmemacher zu verdanken. Sie erscheint ihm als triftigstes Mittel, die filmischen Bedingungen der Wahrheit zu erkunden. Zu trauen ist der Rede nicht. Dazu sind zu viel Ironie und Weisheit im Spiel. Nicht jedem, dem er das Wort erteilt, gibt er auch recht. Und der Irrtum ist nicht das Privileg nur eines Geschlechts.
Absichtsvolle Spontaneität
Während seine Figuren allen Grund hatten, dem Planvollen zu misstrauen, schien Éric Rohmers Karriere einem präzisen Entwurf des zyklischen Erzählens zu gehorchen. Den von 1962 bis 1973 entstandenen Six contes moraux liess er später die Comédies et proverbes und schliesslich die Contes des quatre saisons folgen. Auch zwischendurch beherrschte er die Kunst der Fuge, drehte Solitäre, in denen die vertrauten Themen in sacht veränderter Tonlage anklangen. Selbst in Kostümfilmen variierte er kunstfertig die Grundmelodie seines filmischen Universums. Sie lautet: Ein eher humorloser Mann, der kurz davorsteht, eine feste Bindung zu besiegeln, begegnet einer lebhaften, selbstbewussten Frau, die ihn so sehr bezaubert, dass er seine Entscheidung infrage stellt. Der Einbruch der Spontaneität bringt die romantischen Gewissheiten ins Wanken, fungiert als eine heitere Parenthese der Freiheit.
Allerdings bestand Rohmer darauf, dass die Darstellerinnen und Darsteller den Drehbüchern (er war der einzige Regisseur der Nouvelle Vague, der nie einen Koautor brauchte) bis aufs Komma folgten. Achtsam kalkulierte er jedoch ihr Temperament stets ein. Rohmer war empfänglich für ihren verschmitzten Ernst und ihre geistreichen Launen. Feinnervig fing er Timbre und Nuancen in ihrem Spiel ein. So durften sie (und das Publikum) den Eindruck gewinnen, sie könnten sich ungehindert entfalten. Das Publikum konnte miterleben, wie Fabrice Luchini und Béatrice Romand vor seiner Kamera heranreiften, und durfte sich auf die regelmässige Begegnung mit Arielle Dombasle, André Dussollier, Anne-Laure Meury (der abenteuerlustigen Studentin aus La femme de l’aviateur) und nicht zuletzt mit Marie Rivière freuen. Für Rohmer war nichts aufregender, als ihnen zuzuschauen, wie sie die Gedanken beim Reden verfertigten und auch dann, wenn alles gesagt schien, noch ein Geheimnis offen liessen.
Ausschweifende Schmucklosigkeit
Obwohl er ein verlässlicher Gefühlswert an Kinokassen weltweit war, begriff er seine Arbeit als regelmässige Rückkehr zum Amateurfilm. Seine Filme kosteten wenig, weil er meist nur mit einem achtköpfigen Team und vorzugsweise auf 16 mm drehte. Seine Vorbereitungen begannen oft lang im Voraus: Die Rosen, die Béatrice Romand und Jean-Claude Brialy in Le genou de Claire pflücken, hatte er ein Jahr zuvor pflanzen lassen, damit sie pünktlich zu den Dreharbeiten blühten. Auf Motivsuche ging er selbst (und setzte dabei fast jeden Winkel seiner Heimat in sein filmisches Recht); wenn einmal für eine Szene ein Duschvorhang fehlte, besorgte er ihn eigenhändig im nächsten Kaufhaus. Da er ausgiebig mit den Darstellerinnen und Darstellern probte, musste er selten mehr als einen Take drehen. Das hielt seine Teams auf Trab und verblüffte regelmässig die Mitarbeiter der Kopierwerke: Sie glaubten, sie würden die Muster eines Kurzfilms erhalten, stellten dann aber fest, dass sie das Drehmaterial eines kompletten Langfilms in Händen hielten. «Ihm gefiel die Vorstellung, dass wir nie genug Filmrollen hatten», schrieb sein Kameramann Néstor Almendros, «das entsprach seinem Sinn für Ökologie.»
Diese fragilen Produktionsbedingungen schlugen um in eine robuste, unverwechselbare Ästhetik. Sein Kino ist eines der Evidenz, das listig vorgibt, nichts zu verbergen. Seine szenisch unaufwendigen, gleichwohl komplizierten Liebesintrigen setzte er mit ausschweifender Schmucklosigkeit in Szene. Selten verlangte dieser Asket nach zusätzlichen Scheinwerfern, vielmehr zog er es vor, das natürliche Licht zu formen und interpretieren. Die Unberechenbarkeit der Witterung spielte eine zentrale, ja philosophische Rolle in der Rohmerschen Ästhetik. Sein funktioneller Regiestil stand in der Kamera-auf-Augenhöhe-Tradition von Howard Hawks, auf den er sich bei seiner Verfilmung von Kleists Die Marquise von O… ausdrücklich bezog. Dieses menschliche Mass liess Raum für Stilisierung: Bei Perceval le Gallois orientierte er sich an den irrealen Grössenverhältnissen mittelalterlicher Miniaturen. Die Inspiration seiner Drehbücher mochte literarisch anmuten – gern strukturierte er sie nach Kapiteln, die er mit handgeschriebenen Blättern eröffnete –, seine Bildfindungen jedoch waren geschult an der Kunstgeschichte. Seine Kleist-Verfilmung war inspiriert von der deutschen Romantik (sie ist verblüffend hell für einen Historienfilm); für Le genou de Claire stand Paul Gauguin Pate; bei L’Anglaise et le duc, einem der ersten französischen Filme, die digital gedreht wurden, bezog er sich auf das Brauchtum der Tableaux vivants.
Wachsame Zeitlosigkeit
Kaum ein anderer Regisseur konnte sich so tief einfühlen in die Sitten vergangener Epochen. Dabei ging es ihm nicht um die blosse Vergegenwärtigung von Historie; sein Gestus der Präsentation wahrt Abstand. Die Wirren der Französischen Revolution schildert er in L’Anglaise et le duc aus dem Blickwinkel einer aufgeklärten britischen Royalistin. Er tut dies mit dem ihm eigenen Gespür für den doppelten Boden. Der Gegenspieler der schottischen Aristokratin ist der Herzog von Orléans, Cousin des Königs und glühender Republikaner. Das einstige Liebespaar verstrickt der Marivaux-Kenner und moderne Enzyklopädist Rohmer in ein komödienhaftes Spiel um These und Antithese. Dabei verhandelt er sein kardinales Thema, den Widerspruch zwischen Selbsttreue und -betrug, mit verblüffender Frische.
Rohmers erzählerisches Ethos von Beständigkeit und jugendlicher Entdeckerfreude spottete Zeitgeist und Moden mit leichtfüssiger Strenge. Dabei blieb sein Kino stets durchlässig, war empfänglich für das, was in der Luft lag. Die Satire L’arbre, le maire et la médiathèque zeigte ihn 1993 als wachsamen Beobachter der gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen. Was hier, im typisch Rohmerschen Aufeinanderprallen gegensätzlicher Prinzipien, über die Auflösung klassischer Kategorien von links und rechts, reaktionär und fortschrittlich zutage tritt, ist von höchst aktueller Brisanz – zumal nach der europaweit ersten grün-konservativen Regierungsbildung in Österreich. Rohmer lässt gar eine kluge, couragierte Vorläuferin Greta Thunbergs zu Wort kommen. Auch zehn Jahre nach seinem Tod hört dieser Regisseur nicht auf, ein Zeitgenosse seines Publikums zu sein.
Gerhard Midding