Alberto Lattuada
Das Locarno Film Festival hat 2021 seine traditionelle Retrospektive dem italienischen Cineasten Alberto Lattuada (1914–2005) gewidmet. Der Sohn des Filmmusikkomponisten Felice Lattuada und ausgebildete Architekt ging als Regisseur zwar stets mit der Zeit, übernahm aber Stile und Moden des italienischen Kinos nur, um sie nach seinem Gusto zu variieren und brechen.
Alberto Lattuada war einer der kommerziell erfolgreichsten sowie lange Jahre von der heimischen Kritik meistgeliebten Filmemacher Nachkriegsitaliens – und dennoch wird er mittlerweile von der Kinogeschichtsschreibung weitestgehend ignoriert. Was nicht einer gewissen bitteren Ironie entbehrt: Der lombardische Bürgersohn Alberto war in bester cinephiler Manier nicht nur Kritiker und Amateurfilmemacher (er zeichnet u. a. für die Ausstattung des Avantgardekurzfilms Il cuore rivelatore von Cesare Civita, Alberto Mondadori und Mario Monicelli, 1934), sondern begann auch mit einigen Freunden Kopien zu sammeln. Dieser Bestand bildete den Grundstock für das erste Filmarchiv des Landes in seiner Heimatstadt Mailand: die Cineteca italiana. Zugespitzt gesagt: Ohne Lattuada gäbe es jene Kultur nicht, die ihn seit Dekaden kaum würdigt. Ausnahmen wie die diesjährige Retrospektive des Locarno Film Festivals bestätigen die Regel.
Luci del varietà (1950) ist das am häufigsten erwähnte und gezeigte Werk Lattuadas, da er es zusammen mit Federico Fellini realisierte, wobei Lattuada jeweils eher wie ein Anhang behandelt wird. Sein einziger heute noch geläufiger Film ist Mafioso (1962), einer seiner vielen Versuche über das Ende der Unschuld und die Last der Geschichte, hier als Commedia all’italiana in besonders heillos grauen Tönen und voller Scherze, bei denen einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Als quasi-kanonisches Werk galt lange die brillante Gogol-Adaption Il cappotto (1952), deren kühl-kristallene Ästhetik in manchen Augen etwas Distanziert-Formalistisches hat, eher gedacht als gefühlt, mehr akribisch erarbeitet denn intuitiv geschaffen wirkt – womit man ja mehr das Können eines Handwerkers verbindet als die Virtuosität eines wahren Künstlers.
Ein Mann für jede Kinozeit
Sicher, damit ist man tief im Bereich des Klischees, aber Filmgeschichte orientiert sich (zumindest an ihrer Oberfläche) stark an Gemeinplätzen, der Erzählbarkeit halber, da sich Ausnahmen und Widersprüche schlecht zusammenfassen lassen. Und da liegt das Problem mit Lattuada: Einerseits entzieht er sich diesem Zugriff, da er zu keiner Tendenz des italienischen Kinos gehört. Andererseits gibt es keine bedeutende Tendenz, zu der er nicht einen entscheidenden Beitrag geleistet hätte: sei es mitten im Diktaturdunkel zum Calligrafismo (sein Langfilmdebüt Giacomo l’idealista, 1943), nach Kriegsende zum Neorealismo (Il bandito, 1946), in den 50er-Jahren zum Neorealismo rosa (u. a. La spiaggia und Scuola elementare, beide 1954) und zur Commedia all’italiana (Mafioso), sei es zu jenem namenlosen Moment zu Beginn der 60er-Jahre, da sich in und aus der lokalen Filmindustrie eine Art Nouvelle Vague zu formen begann (Dolci inganni, 1960; L’imprevisto, 1961), bis hin zu seinem letzten Kinofilm, Una spina nel cuore (1986), den vordergründig wenig unterscheidet von den vielen Erotikmelodramen jener Jahre. Wenn sich Lattuada mit solchen Gestaltungs- und Haltungsmoden – denn das sind diese Tendenzen letztlich – handfest auseinandersetzt, dann auch, um mit dem Publikum im Dialog zu bleiben. Lattuada macht immer Kino: Konjunkturware als Zeitgenossenschaft und damit auch als Möglichkeit, die Zeiten und Sitten zu kommentieren. Allerdings machte er (abgesehen von seiner verschrobenen Spionagekomödienfarce Matchless, 1965) nie Genrekino: Formales und inhaltliches Korsett durften nicht zu eng und zu bestimmend sein.
So fand Lattuada in jeder Mode, jeder Tendenz und jedem Zeitgeist Aspekte, Themen, Bilder, die sich mit seinen Interessen, Obsessionen, Überzeugungen in Einklang bringen liessen. Was auch zeigt, wie fundamental seine Fragen sind, wenn sie wieder und wieder in unterschiedlicher Gestalt auftauchen und sich in jeder Gestalt und jeder Epoche aufs Neue stellen: die Fragen nach der Unschuld, nach dem Platz des Menschen in der Gesellschaft und in der Geschichte und die Frage, wer diese Geschichte schreibt.
Zartheit und Zynismus
Um seelische wie sexuelle Unschuld und was man auf sie projiziert, drehen sich viele der bekanntesten Filme Lattuadas. Gleich sein zweites Werk, La freccia nel fianco (begonnen 1943, fertiggestellt 1945 durch den ungenannten Mario Costa), dreht sich um die Frage jugendlicher Leidenschaft und deren Folgen in der Erwachsenenwelt, ebenso Guendalina (1957), der berühmte Zensurfall Dolci inganni, L’amica (1969), das Skandalon Le farò da padre (1974) und Così come sei (1978). Lattuada war sich dessen bewusst und bezeichnete etwa Così come sei als seine Rückkehr zur Welt von Guendalina und Dolci inganni.
Allerdings ändert sich von Film zu Film die Versuchsanordnung und damit das Machtverhältnis zwischen den Figuren und Altersgruppen: Mal geht es um Heranwachsende unter sich, erinnert aus deren Perspektive als Erwachsene, mal um Teenie-Liebeleien, mal um eine Jugendliche, die sich in einen älteren Mann verliebt; dann ist es eine verheiratete Frau von Mitte 40, die sich an einer anderen rächt, indem sie deren Gatten und Sohn verführt; ein anderes Mal beginnt ein Mann von über 50 ein Verhältnis mit einer jungen Studentin, in dessen Verlauf er realisiert, dass sie seine Tochter sein könnte, weil er mit ihrer Mutter einst eine Affäre hatte. Je älter Lattuada wird, desto verzweifelter und bitterer, aber auch grotesker wird sein Blick: Zeichnet La freccia nel fianco und Guendalina noch eine vorsichtige Zartheit und damit allen Enttäuschungen zum Trotz etwas Lebenszugewandtes aus, so haben Le farò da padre in seiner Hysterie und Così come sei in seiner abgrundtiefen Melancholie etwas unverhohlen Morbides.
Grosse Hoffnungen für die Menschheit hatte Lattuada nie: Die Aufstände, von denen Il mulino del Po (1949) und La tempesta (1958) erzählen, scheitern, wenn auch nicht kläglich: Revolutionen sind dazu da, dass etwas passiert, und nicht, um ein klar umrissenes Ziel zu erreichen. Das verleiht dem dramatisch-ernsthaften Koloss La tempesta einen unerwartet süffisanten Unterton, wurde doch die Pugatschow-Rebellion in der UdSSR als einer der vielen Vorläufer der Oktober-Revolution gesehen. Was wiederum heisst, dass für Lattuada auch dieses Reich nur vorläufig war. Das ist zwar im Film nicht so zu sehen, stellt sich aber mit Blick auf das Gesamtwerk so dar. Was in beiden Fällen bleibt, ist die Möglichkeit persönlichen Glücks. Wobei auch das für Lattuada eine ambivalente Perspektive ist. Einer seiner groteskesten und in dieser Hinsicht erschütterndsten Filme ist Sono stato io! (1973): Ein Fensterputzer will berühmt werden und nimmt zu diesem Zweck ein Verbrechen auf sich, das er nicht begangen hat. Für seine 15 Warhol-Minuten fährt er 30 Jahre Bau ein – und als er im Gefängnis ankommt, weiss niemand, wer er ist. Waren seine Lattuadas erste Filme schon bitter, so gähnt in seinem Spätwerk ein Abgrund, der alles Licht verschluckt.
Olaf Möller
Kölner. Filmkritiker.