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Werner Herzog

Mehr als ein halbes Jahrhundert umspannt Werner Herzogs bisherige Karriere. Die Suche nach Extremen und das Ausloten des (filmisch) Möglichen bestimmen sein Werk. Dabei sind die Filme und ihre Rezeption untrennbar mit dem Mythos um seine Person verbunden.

Vom 18.–21. November beschäftigt sich der Verein Cinépassion aus psychoanalytischer Sicht mit Herzogs Werk. Der Filmpodium-Programmpass (16.11.–31.12.2021) gilt auch als Cinépassion-Filmpass: Ab dem 16.11. erhältlich für CHF 60.– an der Kinokasse.

1942: Bombenangriff auf München. Wie durch ein Wunder bleibt der zwei Wochen alte Werner Herzog unverletzt, obwohl Trümmer und Scherben in seine Wiege fallen. Flucht der Familie ins abgeschiedene Bergdorf Sachrang. Erst mit elf Jahren sieht Herzog seinen ersten Film. Doch der ist eine Enttäuschung: Mit Schnee bestens vertraut, entlarvt Herzog die ungeschickten Inuit in diesem Lehrfilm über die Arktis als Schauspieler. Die Faszination fürs Kino ist aber geweckt.
Wenn Werner Herzog erzählt, ist häufig unklar, an welchen Stellen er übertreibt. Gleichzeitig passen die Anekdoten zu gut, um nicht in Verbindung mit seinem Werk gelesen zu werden: Klaus Kinski etwa drohte er mit dem Tod, und einmal, als ihn lediglich eine «insignificant bullet» getroffen hatte, filmte er einfach weiter. Solche Vorfälle bestätigen sein Selbstverständnis als Filmemacher: «I am a soldier, not an artist.» Er sagt auch, er arbeite wie ein Chemiker, der ein unbekanntes Metall grosser Hitze und Druck aussetze.
Auf seiner Suche nach verborgenen Wahrheiten sind bei Herzog die Produktionsgeschichte und das fertige Resultat oftmals eng verschmolzen, wohl nirgends so stark wie bei Fitzcarraldo (1982). Der Film ist ebenso liebevoller Blick auf den Opernbewunderer Fitzcarraldo, dessen historisches Vorbild im 19. Jahrhundert als wahnwitziges Projekt einen zerlegten Flussdampfer über einen Berg transportieren liess, wie Dokument von Herzogs unglaublichem Willen, tatsächlich ein Schiff von Indios über den Berg ziehen zu lassen. Die verschiedenen Ebenen erschliessen sich einem erst, wenn man das Making-of Burden of Dreams (1982) von Les Blank gesehen hat. Herzog gleicht oftmals seinen Protagonisten. So spiegelt und erweitert sich etwa der Grössenwahnsinn der Titelfigur von Aguirre, der Zorn Gottes (1972) auf beeindruckende Weise in Mein liebster Feind (1999), wobei Herzog auch mit dem eigenen Image spielt. Hier zeigt sich die (Selbst-)Ironie, die unterschwellig im ganzen Werk präsent ist und die ihm viele nicht zutrauen. Was wiederum an Herzogs Behauptung liegen könnte, dass er Ironie nicht erkenne.

Macht der Natur, Wahn des Menschen
Eines der dominantesten Themen im Werk des bayrischen Filmemachers ist die Konfrontation des Menschen mit der Natur. Dieses Verhältnis ist bei Herzog selbst von grossem Respekt geprägt und in seinen Dokumentarfilmen oft von einer wissenschaftlichen Neugier begleitet. Er verweigert sich einer einfachen Exotisierung der Natur (oder gar einer Erotisierung, wie sie Kinski in Fitzcarraldo wünschte). Vielmehr sieht Herzog die Natur als eine Gewalt. In der Auseinandersetzung oder im Kampf mit ihr offenbaren sich bislang verborgene Aspekte des Menschen. Diese können kulturgeschichtliche Züge annehmen, so etwa im 3-D-Dokumentarfilm Die Höhle der vergessenen Träume (2010), der mit spektakulären Bildern tief in die Menschheitsgeschichte abtaucht, oder in seinem Frühwerk Fata Morgana von 1971: Während Leni Riefenstahl zur gleichen Zeit mit ihren ästhetisierten Nuba-Bildern die fragwürdige Vorstellung von Afrika als einem wilden Kontinent bedient, schafft es Herzog, unseren westlichen Blick zu reflektieren und naiven Idealismus zu vermeiden.
Ohne falsche Überhöhung begegnet Herzog auch seinen männlichen Protagonisten. Oft von grosser Sympathie für sie geprägt, legt der Regisseur aber auch die mitunter verstörenden Seiten der Charaktere offen. Wiederholt stellen die Hauptfiguren gesellschaftlichen Normen in Frage, ganz direkt etwa in den Filmen mit Bruno S. Für diesen Strassenmusikanten schrieb Herzog das Aussenseiterporträt Stroszek (1977) und bediente sich dazu bei der Biografie des Darstellers. Seine Hauptfiguren wandeln stets auf der Grenze zwischen Wahn und Rebellion. Hollywoodstars wie Nicolas Cage und Michael Shannon, die typische Herzog-Protagonisten verkörpern, erinnern mit ihren Wutausbrüchen oder der gepressten Stimme an Kinski und Bruno S.
Auch Herzogs Dokumentarfilme geraten oft zu Charakterstudien. Er beleuchtet die (mitunter fanatische) Leidenschaft der Hauptfiguren und lässt das Publikum durch die Vermittlung ekstatischer Momente daran teilhaben. Meist ist Herzog als Erzähler oder Filmemacher präsent, wodurch sich die Frage aufdrängt, inwiefern diese Porträts auch eine Selbsterkundung sind: Die grosse Ekstase des Bildschnitzers Steiner (1974) erzählt mit unverhohlener Faszination vom Skispringen und damit von der Sportart, die Herzog als Jugendlicher meistern wollte. The White Diamond (2004) handelt vom Traum, ein Luftschiff zu fliegen. Immer häufiger rücken aber in den späteren Werken die Dreharbeiten und damit Herzogs Arbeitsethik ins Zentrum. Wenn er gefährliche Flugaufnahmen selbst macht oder an einer Stelle den Dreh aus Risikobedenken abbricht, bestätigt er seinen Vorsatz «do the doable» und scheint das Bild des kompromisslosen Filmemachers aus Fitzcarraldo berichtigen zu wollen. Am Ende von Grizzly Man (2005) gibt Herzog zu, dass der Film auch von ihm selbst handelt. Die Aufnahmen des Tierfilmers Timothy Treadwell schlugen ihn derart in ihren Bann, dass er aus dem Found Footage ein Porträt des Forschers sowie eine eigene Tierdokumentation machen musste.

Wahrheitsfindung statt Tatsachentreue
Seine aktive Präsenz im Film ist bei Herzog Konzept. Er verachtet das Direct Cinema und den Ansatz des unsichtbaren Autors oder der «fly on the wall». Er verweist auf ein Zitat des Schriftstellers André Gide: «Ich ändere Tatsachen so weit, dass sie mehr der Wahrheit als der Realität ähneln.» Herzog geht es darum, durch das Eingreifen in die Realität eine tiefere Wahrheit hervorzubringen und der Illusion des unbeteiligten Beobachters weder selbst zu erliegen noch diese dem Zuschauer zu suggerieren.
Eindrücklich spürbar wird dieser Ansatz in Interviews: Für Into the Abyss (2011) durfte der Filmemacher die Insassen im Todestrakt jeweils nur eine Stunde treffen. Zu Beginn des Gesprächs mit Michael Perry, der acht Tage später hingerichtet werden sollte, stellt Herzog klar, dass Perrys schwere Kindheit ihn nicht von Schuld freispreche. Und weiter: «It doesn’t necessarily mean that I have to like you.» Für einige Sekunden bleibt die Kamera auf dem Gesicht des sprachlosen Insassen. Zu diesem Zeitpunkt hätte das Gespräch vorbei sein können. Was dann aber entsteht, ist eine Begegnung, die nicht einfach Kategorien wie Täter und Opfer zementiert, sondern deren Grenzen aufweicht. So gelingt es Herzog, seine Ablehnung der Todesstrafe deutlich zu machen und darüber hinaus ein feinfühliges Porträt der US-amerikanischen Südstaaten zu zeichnen.
Der Filmkritiker Roger Ebert schrieb über Into the Abyss: «Herzog scheint immer zu wissen, wohin er schauen muss.» Und findet so Wahrheiten, die anderen verborgen bleiben.
Marius Kuhn

Marius Kuhn ist wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet daneben als freischaffender Filmhistoriker und Publizist.