Georges Franju – Poesie der Angst
Vater des modernen Horrorfilms, Held der Nouvelle Vague und Mitgründer der Cinémathèque française: Georges Franju (1912–1987) steht für ein singuläres Werk von atemberaubender Schönheit und Intensität – heute wie damals absolut modern und doch aus der Zeit gefallen. Inspiriert von Surrealismus und Expressionismus schuf Franju mit Les yeux sans visage (1960) einen abgründig-poetischen Horrorklassiker, der zahllose Filmschaffende beeinflusste. Seine Dokumentarfilme verbinden Poesie und harte Realität zu beissender Gesellschaftskritik. Unser Programm schlägt eine Brücke von den Anfängen des Kinos bis in die Gegenwart: von Feuillade über Franju zu Lynch und Almodóvar.
Die junge Frau mit weisser Maske anstelle eines Gesichts geht langsam aus ihrem Gefängnis hinaus in den nächtlichen Wald. Das Blut eines geschlachteten Pferdes dampft in der Morgenkälte. Eine Junge springt über Schützengräben, während am Himmel Flammen leuchten. Ein abgeschnittenes Ohr fällt in ein frisches Grab. Ein Mann mit Vogelkopf im Smoking trägt eine tote Taube in der offenen Hand. Es sind Bilder, erschreckend und zauberhaft schön zugleich, von denen man denken würde, dass sie nur aus den eigenen Träumen stammen können, hätten wir sie nicht auf der Kinoleinwand vorgeführt gesehen. «Franju – Le visionnaire» hat André S. Labarthe den Filmemacher, von dem diese Bilder stammen, treffend betitelt. Und tatsächlich scheinen Georges Franjus Filme wie Visionen eines Mystikers: absolut konkret und zugleich poetisch überhöht, lassen sie sich niemals zu Ende deuten. Schon in seinem frühen Dokumentarfilm Le sang des bêtes über die Schlachthöfe an der Pariser Peripherie ging es Franju nach eigenen Aussagen nicht nur darum, ohne jede Rücksicht zu zeigen, welche Gewalt den Tieren hier alltäglich widerfährt, sondern, dass zur selben Zeit, nur wenige Hundert Meter entfernt, Kinder Ringelreihen tanzen und Liebende sich küssen. Der Horror und die Zärtlichkeit – sie sind bei Franju keine Widersprüche, sondern immer ein Paar. Und statt mit eindeutigen Antworten bleiben wir verzaubert und schockiert zurück, auf jeden Fall aber für immer verändert. Wer Franjus Visionen gesehen hat, wird sie nicht mehr los.
Liebevoller Chirurg
Der 1912 geborene Georges Franju war auch im wörtlichen Sinn ein Visionär: ein Vielseher, dessen Filmkenntnisse ihn zu einem der Väter der Filmgeschichtsforschung machten. Gemeinsam mit Henri Langlois gründete er 1935 den Filmclub Cercle du cinéma – mit La chute de la maison Usher von Jean Epstein, Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari und Paul Lenis The Cat and the Canary als erstem Programm. Nur ein Jahr später wird aus dem Filmclub die Cinémathèque française und Franju damit zum Mitbegründer der wichtigsten filmhistorischen Institution Europas. Später ist er leitender Sekretär der Internationalen Vereinigung der Filmarchive FIAF und Generalsekretär des Institut de cinématographie scientifique.
Seine eigenen Filme sind immer wieder direkte Reaktion auf all die Filme, die er in jungen Jahren selbst gesehen und geliebt hat: Er porträtiert beispielsweise den Filmpionier und Kinozauberer Georges Méliès und dreht mit Judex 1963 ein verspieltes Remake jener gleichnamigen Filmserie von Louis Feuillade aus den 1910er-Jahren. Franjus Filme sind immer auch Liebeserklärungen ans Kino seiner Vorläufer. Von den Dokumentarfilmen Jean Painlevés (mit dem er am Institut de cinématographie scientifique zusammenarbeiten wird) lernt Franju früh die Verschränkung von wissenschaftlicher Präzision und poetischen Bildideen und kombiniert sie mit dem Expressionismus Friedrich Wilhelm Murnaus, der träumerisch-anarchischen Verspieltheit Jean Vigos oder dem Surrealismus Luis Buñuels. Alles näht er virtuos zusammen, so wie der Chirurg in Franjus wohl berühmtesten Film Les yeux sans visage, der jungen Frauen das Gesicht wegschneidet, um es seiner Tochter zu transplantieren. Dass das Drehbuch vom Autorenduo Pierre Boileau und Thomas Narcejac stammt, die schon die Vorlage für Henri-Georges Clouzots Les diaboliques und Alfred Hitchcocks Vertigo lieferten, zeigt zusätzlich, wie sehr sich der Film auf die Kinogeschichte bezieht. Zugleich sprengt er jede bis anhin geltende Form. Wo andere Filme nur eine Tonart nutzen, ist Les yeux sans visage ebenso märchenhaft wie schonungslos dokumentarisch, explizit und subtil, brutal und sanft, dunkler Thriller, grell ausgeleuchteter Splatterhorror und trauriges Melodram in einem.
Das Werk ist mit seinem zärtlichen Schrecken ein Solitär geblieben und gerade deshalb Inspiration und Herausforderung für andere Filmschaffende: Pedro Almodóvar hat mit La piel que habito eine explizite Variation von Les yeux sans visage gedreht, und wer sich mit Franju im Hinterkopf so unterschiedliche Filme wie Tobe Hoopers berüchtigten The Texas Chain Saw Massacre oder David Lynchs Blue Velvet anschaut, wird sofort erkennen, wie sehr sie beide im Versuch, das unaussprechlich Grauenhafte mit dem wundersam Poetischen zu verbinden, auch Kinder Franjus sind.
Mysteriöser Einzelgänger
Im Gegensatz zu seinen Nachfahren ist George Franju bis heute einem breiten Publikum weitgehend unbekannt – und das, obwohl er für die Filmgeschichte als Archivar wie als Künstler so einflussreich war. Das liegt auch daran, dass er bis zu seinem Tod 1987 in all seinen Filmen radikal eigenwillig, ja merkwürdig abseitig geblieben ist. Anders als bei den Regisseuren und Regisseurinnen der Nouvelle Vague, die bei ihm zur Schule gingen, waren Franjus Filme nie in Mode, passten nie zum Zeitgeist. Seine Werke sind vielmehr mysteriöse Einzelgänger, so wie der Junge in seinem Film Thomas l’imposteur, der mit gefälschter Uniform und Biografie in den Truppen des Ersten Weltkriegs auftaucht und wieder verschwindet, ohne dass wir seine Motive ganz ergründen könnten. Franjus Kino will sich entziehen wie Thérèse Desqueyroux im gleichnamigen Film, die es im Käfig grossbürgerlicher Wohlanständigkeit nicht mehr aushält, oder wie der junge François, der am Anfang von La tête contre les murs auf seinem Motorrad über die Wiesen rast und einfach nur davonfliegen möchte. Franju, der als 15-Jähriger Fantômas, Freud und Sade studierte, die schon den Surrealisten als Schutzheilige dienten, war mit seiner Affinität für die Anfänge des Kinos entweder zu spät geboren oder in seinem Gefühl für den subtilen Horror, der unter den anständigen Oberflächen lauert, seiner Zeit voraus.
Wahrscheinlich hat er uns in seinem sanften Unwohlsein gerade deshalb heute so viel zu sagen. Wenn wir uns beispielsweise Franjus scheinbar simplen und von der zeitgenössischen Kritik kaum ernst genommenen Krimi Pleins feux sur l’assassin (wieder nach einem Drehbuch von Boileau/Narcejac) anschauen, erkennen wir darin die Vorwegnahme jener New-Media-Paranoia, die aktuell als Black Mirror- oder Squid Game-Episoden auf unseren Bildschirmen laufen, einfach mit Mikrofon und Bandgerät statt Mobiltelefon und Internetüberwachung. Und der alles beobachtende Spielleiter ist bei Franju kein egomanisches Mastermind, sondern ein vergessener Toter in einem Spiegelschrank. Was für eine schaurig-schöne Vorstellung, dass der Blick, den dieser Film einnimmt, von Totenaugen hinter einem Spiegel kommt. Möglicherweise ist genau das die visionäre Perspektive Franjus: Es ist der Blick von einem, der aus der Zeit gefallen ist, ein Blick, der dadurch zeitlos bleibt, fähig, uns zärtlich immer wieder neue Schrecken sehen zu lassen.
Johannes Binotto
Johannes Binotto, Kokurator dieser Reihe, ist Kultur- und Medienwissenschaftler, Videoessayist und Filmpublizist. Seine Spezialgebiete sind die Phänomene des Unheimlichen und die Schnittstellen zwischen Filmtheorie, Technikgeschichte und Psychoanalyse. www.schnittstellen.me