Pier Paolo Pasolini: Die 100 Jahre von PPP
Zum 100. Geburtstag Pier Paolo Pasolinis (1922–1975) widmet das Filmpodium dem italienischen Autor, Dichter und Regisseur eine Retrospektive, die ihn im Kontext des zeitgenössischen Kinos zeigt. Zahlreiche selten gesehene Werke anderer Cineast:innen, die Pasolini mitgeprägt hat, enthüllen neue Facetten seines reichhaltigen Schaffens. Ergänzt wird die von Olaf Möller kokuratierte Filmreihe mit einer Lesung von Pasolinis Gedichten, die Wolf Wondratschek mit Christian Reiner und Graziella Rossi präsentiert, und einer Podiumsdiskussion, an welcher Milo Rau, Stefan Zweifel, Hannah Pilarczyk, Vinzenz Hediger und Toni Hildebrandt teilnehmen.
Am 5. März dieses Jahres hätte Pier Paolo Pasolini seinen 100. Geburtstag gefeiert, was einlädt zu einer neuerlichen Annäherung an sein Werk. Für einmal nicht mit Konzentration auf sein Schaffen als Regisseur, sondern auch mit Blick auf Pasolinis Arbeit als Mitverfasser von Drehbüchern und Dokumentarfilmkommentaren wie auch als Autor von Werken, die von anderen Filmemachern adaptiert wurden, auf Pasolini als Filmarbeiter und als soziokulturelles Phänomen, als Protegé des Meisterregisseurs Mauro Bolognini und des Starliteraten Alberto Moravia wie auch als Mentor-Freund so unterschiedlicher Geister wie Cecilia Mangini (La canta delle marane, 1961), Bernardo Bertolucci (La commare secca, 1962), Paola Faloja (Il ragazzo motore, 1967) und Sergio Citti (Ostia, 1970).
Als Pasolini am 31.8.1961 am Rande des Filmfestivals von Venedig sein Regiedebüt Accattone präsentierte, war er bereits ein Star der italienischen Nachkriegskultur – als Lyriker, Romancier und Drehbuchautor ebenso wie als Intellektueller. Er war ein Skandal in Menschengestalt, dessen Leben wie Werke immer wieder zu Prozessen Anlass gaben. Jeder kannte Pasolini, jeder verhielt sich irgendwie zu seinen Ideen, und sei’s ganz unbewusst. Man fühlte sich angesprochen von diesem Meister der beständigen, produktiven Widersprüche, der non-doktrinärer Kommunist und antiklerikaler Katholik und Homosexueller war, ein Skeptiker des Wirtschaftswunders und Apologet historisch verwurzelter Volkskultur, ein libertär-progressiver Traditionalist, für den das Sich-Einmischen in tagesaktuelle Diskussionen – einschliesslich gezielter Provokationen – kein Selbstzweck war, sondern ein Weg zu kommunizieren, mal mit wenigen, mal mit vielen. In dieser Hinsicht ist sicherlich die Dokumentation/Reportage zum Sexualleben der Italienerinnen und Italiener des Boom-Zeitalters, Comizi d’amore (1964), sein Schlüsselwerk: Hier sieht man Pasolini inmitten seiner Landsleute, neugierig und offen und wahnsinnig charmant, was so manche:n Befragte:n offensichtlich bezauberte. Hier sieht man den stillen, aber bestimmten, liebevoll lebenszugewandten Mann, von dem seine Freundin, die Schriftstellerin Dacia Maraini, noch Dekaden später schwärmte.
Cineastische Partnerschaften
Pasolinis kultureller Einfluss zeigt sich im Kino schon vor Accattone. Zum Teil natürlich, weil er sich selbst in das Schaffen anderer einzubringen verstand. Das Drehbuch von Franco Rossis Morte di un amico (1960) entwickelte er um Variationen der Kleinkriminellen aus den «borgate», den schäbigen Vororten der römischen Peripherie, wie sie in seinen Romanen «Ragazzi di vita» (1955) und «Una vita violenta» (1959) aufgetreten waren. In seinem Drehbuch für Luciano Emmers viel zensierte Komödie in Moll, La ragazza in vetrina (1961), die rund ein halbes Jahr vor Accattone herauskam, animiert die gleiche proletarische Lebenswut zwei italienische Bergarbeiter im belgischen Kohlerevier, die bei einem Wochenendausflug ins Amsterdamer Rotlichtviertel wenig mehr finden als laue Enttäuschungen.
Wichtiger als diese verstreuten Wahlverwandtschaften aber war Pasolinis mehrjährige Kreativpartnerschaft mit seinem Mentor Mauro Bolognini, welche fünf Werke hervorbrachte. Auch Bolognini war schwul und dem Bürgertum gegenüber arg skeptisch. Im Gegensatz zu Pasolini jedoch war er ein kultivierter Zyniker, dessen Weltsicht sich folgendermassen verdichten liess: Alle Form von menschlichem Miteinander läuft auf Prostitution hinaus; in dem Bordell namens Gesellschaft ist man mal der Freier und mal der Stricher, alles andere ist Selbstbetrug. Kein Wunder also, dass Bolognini angezogen war von dem lumpenproletarischen Strichermilieu von Pasolinis «Ragazzi di vita», auf dessen Basis er ihre dritte Kollaboration, La notte brava (1959), gestaltete. Mag sein, dass die Erfahrungen mit dieser Produktion Pasolini dazu bewegten, selbst Regie zu führen; jedenfalls war er von Bologninis gewohnt distanziert-unterkühltem Zugriff auf seine Geschichte nicht begeistert und es kam zu einem temporären Zerwürfnis.
Literarische Seelenverwandtschaften
Pasolini arbeitete dennoch bei zwei weiteren Filmen mit Bolognini zusammen, deren einer, La giornata balorda (1960), auf den «Racconti romani» (1955) seines älteren Freundes Alberto Moravia beruht. Eine logische Beziehung, möchte man sagen: Beide Autoren wurden berühmt durch Romane, in denen Sex eine zentrale Rolle spielte; beide waren skandalumwitterte Existenzen (siehe etwa Moravias Verhältnis mit der fast 30 Jahre jüngeren Dacia Maraini); beide betrachteten das Bürgertum mit tiefster Skepsis; beide wurden sowohl vom christdemokratischen Establishment wie der kommunistischen Opposition angefeindet. Der grösste Unterschied war wohl, dass Pasolini in der Unterschicht, im einfachen Volk ein utopisches Potenzial sah, dem er vor allem in Il vangelo secondo Matteo (1964) und Il Decameron (1971) huldigte. Dazu konnte sich Moravia nicht durchringen, auch wenn er, wie Pasolini, sehr genau war bei Unterscheidungen wie etwa zwischen Volks- und Massenkultur. Mit Moravia verband ihn aber zudem eine Drehbucharbeitsbeziehung: Beide gehörten zu den Autoren von Mario Soldatis La donna del fiume (1954), Pasolinis erstem Schreibjob fürs Kino. Und diesen Auftrag hatte ihm ein anderer Literatenfreund, Giorgio Bassani, verschafft, dessen Kurzgeschichte «Una notte del ʼ43» aus der Anthologie «Le storie ferraresi» (1960) wiederum Pasolini für Florestano Vancinis La lunga notte del ’43 (1960) koadaptierte. Bassanis Stoff nahm einige Aspekte vorweg von Pasolinis eigener Beschäftigung mit dem italienischen Faschismus und der Nazi-deutschen Besatzung 1943–45 sowohl in dem wenig bekannten Porcile (1969) als auch seinem erst posthum veröffentlichten «monstre sacré» von Filmpamphlet Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975).
Wer weiss, wie sich Pasolini weiterentwickelt hätte, was nach Salò noch gekommen wäre – denn auch wenn dieser nachgerade wie ein perfekter Schlussstein seines Schaffens wirkt, sollte er das ja nie sein. Was wir wissen, ist, dass Pasolini recht hatte mit so ziemlich allen seinen kulturellen Befürchtungen. Dacia Maraini fasste das 2014, 39 Jahre nach seinem Tod, in einem Interview mit der «Welt» so zusammen: «Seine Kritik am Establishment und Niedergang an der italienischen Gesellschaft war visionär. Wir können den Berlusconismus heute wie eine Prophezeiung Pasolinis lesen. (...) Es ist eine Massenkultur, die allein auf den Gesetzen des Marktes basiert, auf Arroganz und Macht. Sie stellt den Reichtum aus und huldigt dem Schwindel, jede Form von Loyalität und Redlichkeit tritt sie mit Füssen. Es ist eine Kultur ohne Seele, ohne jede soziale Solidarität.»
Olaf Möller
Olaf Möller. Kölner. Filmkritiker.