Tilda Swinton - Furchtlose Gestaltwandlerin
Tilda Swinton geht aufs Ganze. Tilda Swinton macht – nein, besser: Sie ist Kunst. Immer! Ob punkiges Experiment oder ambitionierter Mainstream, Swinton schreibt sich in ihre Rollen mit Aura und Körpereinsatz ein, wird in wenigen Spielminuten zum Gravitationszentrum jedes Films. Wir präsentieren die atemberaubende Bandbreite ihres Schaffens als schöpferische Muse, furchtlose Schauspielerin und engagierte Produzentin – und freuen uns auf ihren Besuch am 31. Mai. Zu den weiteren Highlights unserer Swinton-Hommage gehören die Schweizer Premiere von Pedro Almodóvars Kurzfilm The Human Voice, der Vortrag von Elise Lammer über Swintons Mentor Derek Jarman und die Vorpremiere von Apichatpong Weerasethakuls Memoria.
Ihr erster Filmauftritt bleibt unvergessen. Wir sahen sie 1986, inmitten der Nachwehen der Jugendbewegung in Zürich, zwischen Demonstrationen für Frauenrechte und sexuelle Freiheit, in Caravaggio von Derek Jarman und wussten: Dieses sprühende, androgyne Feuer ist mehr als die Darstellung einer Figur. Tilda Swinton zeigte bereits in ihrem ersten Film die Sprengkraft ihrer Präsenz und ihre stupende Wandelbarkeit: Eine eher unscheinbare, ärmliche Frau erblühte unter den Augen des Künstlers Caravaggio bzw. Jarmans Regie in den Tableaus des Films zu einer umwerfenden, rothaarig glühenden Erscheinung, zum Zentrum des Begehrens aller, zum Bild für das pulsierende Leben schlechthin. Hinweggefegt waren mit diesem Auftritt Swintons die sich quälend langsam aus Unterdrückungsverhältnissen entwindenden Frauenfiguren im Kino jener Zeit und die damals noch mehrheitlich verschämt-verbrämten Darstellungen anderer als heterosexueller Sexualität. Sie war – und ist auch heute, mit bald 62 Jahren – eine Erscheinung von einem anderen Stern: kühne 1.80 Meter schlank, strahlendes Elfenbeinantlitz, grüne Augen, die je nach Situation wie dunkle Nadeln aus ihrem Gesicht stechen oder sich in unergründlich helle Gräulichkeit auflösen, ein Nasenprofil wie ein gehisstes Segel und ein derart leichter Gang, als gäbe es keine Erdanziehung. Noch lange vor Gender-Stern und -Doppelpunkt, als selbst das Binnen-I noch eine mehrheitlich belächelte Forderung war, setzte Swinton mit ihrer Physis neue Massstäbe: Sie war die Verkörperung einer Vision und bereits von dem Moment an, als sie mit Jarmans Caravaggio im Kinolicht erstrahlte, eine Ikone. Viele haben sie in ihrer schillernden, genderfluiden Präsenz und Performanz auch mit David Bowie verglichen, den Swinton als ihren geistigen Cousin bezeichnet – und mit dem sie u. a. 2013 das Video The Stars (Are Out Tonight) drehte.
Zusammenarbeit mit Derek Jarman
Wenn man sieht, wer Tilda Swinton geprägt und auf ihrem Weg begleitet hat, als Schauspielerin, aber auch als Essayfilmerin hinter der Kamera, wenn man die Namen der Regisseur:innen und Künstler:innen, mit denen sie gearbeitet hat, betrachtet, so ist John Berger, dem sie den Dokumentarfilm The Seasons in Quincy gewidmet hat, sicher eine wichtige Begegnung, aber die intensive Arbeit mit dem britischen Regisseur Derek Jarman war mit Abstand die tiefschürfendste. Von 1986 an trat sie bis zu seinem Tod 1994 in jedem seiner Filme auf, ja, sie war die Jarman-Darstellerin und nicht mehr wegzudenkender Bestandteil seines ästhetischen Universums, er ihr Mentor und Kreator, sie der Star und seine schöpferische Muse. In Jarmans explosivem Bilderrausch The Last of England (1987), seinem anklagenden Abgesang auf die englische Kultur, ist Swinton in einer finalen Sequenz als junge Braut zu erleben, die sich in eine Art tanzenden Derwisch verwandelt. In Edward II von 1991 wiederum, wie Caravaggio in konsequent antinaturalistischem Stil inszeniert, mutiert sie in der Rolle der Königin vom eingeschüchterten Opfer zur machthungrigen Intrigenspinnerin. Wie wichtig Jarmans gemeinschaftsbildende Arbeit und kämpferische, nonkonformistische Haltung für Swinton, aber auch für viele Künstlerinnen und Künstler national und international war, wird In Isaac Juliens und Swintons Film Derek (2008) deutlich, den die beiden Jarmans Vermächtnis gewidmet haben.
Doch Tilda Swinton bewies auch bald, dass sie als Schauspielerin nicht einfach das Produkt Jarmans war, sondern eine eigenständige Künstlerin, die Rollenangebote kritisch prüft und Regisseur:innen den Vorzug gibt, die in einem avantgardistischen Arthouse-Sektor zu Hause sind. Die Titelfigur in Sally Potters Orlando, der auf Virginia Woolfs gleichnamigem Roman basiert, wurde für Swinton unter all den vielen Figuren, die sie ab 1990 verkörperte, zur Paraderolle, in der sie ihr Image und ihr Format zelebrierte: als hybride, geradezu überirdische Erscheinung mit verblüffender Fähigkeit zur Veränderung. Als Orlando rast Swinton auf atemberaubende Weise durch die Zeiten und die Geschlechter. Der spielende Wechsel zwischen Mann und Frau, den Swinton bereits 1987 und 1988 in englischen Theatern in «Jacke wie Hose» von Manfred Karge dargestellt hatte, ist auch der Kern der filmischen Adaption Man to Man, die John Maybury 1992 auf ihre Initiative hin realisierte: ein Parforce-Stück, in dem Swinton Rotzbengel, Fledermaus, Dandy, Entertainer, Königin oder auch grotesk gealterte Frau und vieles mehr ist.
Die Erweiterung der Kunstzone
Nach Potter engagierte sie u. a. Susan Streitfeld für eine Hauptrolle; in Female Perversions von 1996 ist Swinton als erfolgreiche Anwältin zu sehen, die mit ihrer delinquenten Schwester und dadurch unausweichlich mit eigenen Ängsten und Schwächen konfrontiert wird. Es sind solche existenziellen Umkippmomente, die sie fortan so eindrücklich zu spielen weiss. Vom gejagten Reh, der unanfechtbaren Karrieristin oder der perfekten Gattin mutiert sie zur begehrenden, hemmungslosen, selbstbewussten oder auch kühl berechnenden Frau. Und nicht selten wird sie als ältere Frau und Mutter halbwüchsiger oder erwachsener Kinder von jüngeren Männern begehrt – vielleicht einer der letzten Tabubrüche unserer Gesellschaft –, wie beispielsweise in Young Adam (2002) von David Mackenzie an der Seite eines blutjungen Ewan McGregor, in Io sono l’amore (2009) von Luca Guadagnino oder im Thriller The Deep End (2001) von Scott McGehee und David Siegel.
Die Liste der Regisseur:innen, mit denen Swinton meist mehr als nur einmal gearbeitet hat, steht für ein ambitioniertes und oft experimentelles Arthouse- oder Independent-Kino: Peter Wollen (Friendship’s Death, 1987), Lynn Hershman-Leeson (Conceiving Ada, 1997, Lynne Ramsay We Need to Talk About Kevin, 2011), Jim Jarmusch (u. a. Only Lovers Left Alive, 2013), Wes Anderson (The Grand Budapest Hotel, 2014), Pedro Almodóvar (The Human Voice, 2020), Apichatpong Weerasethakul (Memoria, 2021). Die Palette ihrer Darstellungen in diesen Filmen reicht von der verhärmten Ehefrau oder einer schwerreichen Greisin über die Darstellung historischer Figuren wie Ada Lovelace bis hin zu einer Vampirin oder Ausserirdischen. Swinton ist aber auch im Mainstream-Kino zu sehen, in grossen Hollywood-Produktionen, in Science-Fiction-, Action- und Fantasyfilmen – solange sie in ihnen einen widerständigen, eigenwilligen Kern entdeckt: etwa als Tyrannin Mason in Snowpiercer von Bong Joon-ho oder als keltische Weise in Doctor Strange. Die Zusammenarbeit mit George Clooney in Michael Clayton brachte ihr einen Oscar als Nebendarstellerin ein. Doch an die Vielfarbigkeit und Faszination ihrer Auftritte in den Filmen von Almodóvar, Potter, Anderson und Jarman reichen die konventionelleren Filme niemals heran – und auch nicht an eine so magische Szene wie jene in Memoria, in der sie einem Sounddesigner den rätselhaften Klang zu beschreiben versucht, den nur sie zu hören scheint.
Bettina Spoerri
Bettina Spoerri ist Kulturvermittlerin, Autorin, Moderatorin, Filmkritikerin, Mitbegründerin des Seret-Filmclubs, Mitglied der Schweizer Filmakademie, Präsidentin der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur.
The Souvenir (2019) und The Souvenir: Part II (2021) von Joanna Hogg mit Honor Swinton Byrne in der Hauptrolle und Tilda Swinton als Mutter sind im Mai im Rahmen der Joanna-Hogg-Retrospektive im Kino Xenix zu sehen.
The Garden von Derek Jarman präsentiert Pink Apple in Kooperation mit dem Filmpodium als Uto Goes Pink Vorstellung am 13.4.2022.