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Ruth Beckermann: Poetische Passagen durch Raum und Zeit

Sie lässt nicht locker. Ruth Beckermann sucht, und sie sucht immer weiter. Als Dokumentarfilmerin, Essayistin, Poetin spürt sie der eigenen wie der allgemeinen Vergangenheit nach und kommt dabei stets zu erhellenden und zugleich überraschenden Ergebnissen. Ihr Kunst ist das Gespräch, ihre Methode ein unermüdliches Forschen nach dem Verborgenen, dem Geheimen – und der grossen Kraft des Ungewissen. In ihren Filmen bringt Ruth Beckermann die Menschen zum Reden und wird am 12. November persönlich in einem Gespräch zu ihrem neusten Werk Mutzenbacher bei uns zu Gast sein und dem Publikum zur Verfügung stehen. Männer auf der Couch. Ihr Blick ist skeptisch, der Körper angespannt. Ungewissheit liegt im Raum. Die Herren unterschiedlichen Alters, Formats und Standes fragen sich mal mehr, mal weniger, worauf sie sich da eingelassen haben. Und auch die Filmemacherin, die sie an diesem Tag eingeladen hat, um vor laufender Kamera eine Passage aus dem 1906 erstmals anonym als fiktive Autobiografie publizierten Erotikroman «Josefine Mutzenbacher» zu lesen, lässt sich überraschen. Ruth Beckermann dirigiert das Geschehen lediglich aus dem Off. Sie stellt Fragen, gibt Anweisungen, inszeniert einzelne «Sitzungen» und Gruppenaufstellungen, um in Mutzenbacher (2022) über die Fantasien und Erlebnisse der Wiener Dirne dem Wesen der männlichen Sexualität ein Stück weit näherzukommen. Das Ergebnis ist überraschend, unbequem und fesselnd zugleich.
Das Ungewisse, Rätselhafte, nicht Kalkulierbare ist im Werk von Ruth Beckermann stets eine wichtige Grösse. «Es ist das Spannende an dieser Art, Filme zu machen,» sagt die österreichische Dokumentarfilmerin, Autorin und Tochter zweier Holocaust-Überlebender selbst. Die Herausforderung besteht darin, schnell ein Gefühl zu bekommen für Menschen. Für Situationen. Für Beobachtungen. Das erfordert hohe Konzentration. Und es ist diese geballte Energie – eine Mischung aus Neugier, Achtsamkeit und Geistesgegenwart – gekoppelt mit der Lust am Entdecken, die aus allen ihren Filmen spricht. Beckermann sucht in ihrem Schaffen, das mittlerweile über 40 Jahre umfasst, stets nach einer Wahrheit, die im Kontrast, im Zwiespalt verborgen liegt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion, Poesie und Geschichte, dem Privaten und dem Politischen.

Das Persönliche und das Politische
Wie sehr dieses Werk immer auch mit Beckermanns persönlicher Geschichte verwoben ist, zeigen insbesondere die Filme, die zu Beginn ihrer Karriere entstanden sind – oftmals auf Reisen oder Streifzügen durch die Zeit, auf den Spuren der eigenen Identität. In Die papierene Brücke (1987) begibt sich die jüdische Filmemacherin erstmals auf die Suche nach dem eigenen Ich im Anderen. Von Wien aus, ihrer stets befremdlichen Heimat, in die sie 1952 hineingeboren wurde, fährt Beckermann gemeinsam mit ihrer langjährigen Kamerafrau Nurith Aviv in die Bukowina im Osten Europas, eine Gegend, in der ihr Vater vor der Übersiedelung nach Österreich kurz nach dem Krieg lebte. Sowohl er als auch die Mutter, die den Krieg in der palästinesischen Heimat überlebte und danach nach Wien zurückkehrte, kommen im Film zu Wort. Und auch die Geschichte der Oma Rosa darf nicht fehlen, die sich dem Abtransport nach Theresienstadt verweigerte und die Jahre bis zur Befreiung in Wien im Untergrund überlebte.
Aber es sind mehr als die eigenen Wurzeln, die hervortreten, wenn Beckermann im Film ihre Kamera auf Menschen und Orte richtet und dabei Bilder und Worte findet, die sich wie ein innerer Monolog zusammenfügen: Wenn im Frühjahr 1986 auf dem Stephansplatz die Passanten aufgebracht über den Wahlkampf von Kurt Waldheim diskutieren, der während der Dreharbeiten zum Film als Kandidat der konservativen ÖVP auf das Amt des Bundespräsidenten spekulierte, dann schlägt Die papierene Brücke auch einen politischen Bogen in die Gegenwart. Zu einem geschlossenen, wenn auch in sich ambivalenten Bild fügen sich die Momentaufnahmen von damals jedoch erst in Waldheims Walzer (2018) zusammen – in dem Beckermann anhand des Archivmaterials von vor 30 Jahren das gefährliche Spiel des österreichischen Staatsmanns um seine dunkle Nazi-Vergangenheit rekonstruiert.

Zwischen den Welten
Es ist das Reisen zwischen Raum und Zeit, das Beckermann von Beginn an zu ihrem Programm, zu ihrer Methode machte. Dazu gehört nicht zuletzt, dass die so rast- wie ruhelose Filmemacherin sich in ihrer unermüdlichen Auseinandersetzung mit dem schwierigen Verhältnis ihrer Heimat zum Judentum und der NS-Zeit unentwegt selbst dem Stillstand verweigerte, sowohl eine Weile in Tel Aviv lebte als auch in Paris und in New York studierte. Ihr Verhältnis zu Wien blieb dabei immer liebevoll gespalten, geprägt von einer gesunden Skepsis, wie auch ihr Blick auf die Welt insgesamt. Davon erzählen nicht nur Filme wie Nach Jerusalem (1990), in dem sich Beckermann erneut auf den Weg macht, um auf der Strasse von Tel Aviv nach Jerusalem Impressionen einzufangen und im Gespräch mit arabischen Bauarbeitern, russischen Jüdinnen, Soldaten, Taxifahrern oder einer Gruppe von Äthiopierinnen der jahrtausendealten Idee von der jüdischen Heimat nachzuspüren. Auch American Passages (2011) ist eine Art Zeitkapsel, verpackt als Roadmovie. Obwohl die beeindruckende Collage der USA zu Beginn der Obama-Ära ursprünglich angeregt von Robert Franks berühmtem Fotoessay «The Americans» aus dem Jahr 1958 gedreht wurde, lassen sich Beckermanns Absichten auch ohne jegliche Vorkenntnisse erkennen: Die filmische Momentaufnahme eines riesigen Landes, in dem sich die Aussenstehende wie eine Anthropologin auf geheimer Mission bewegt, um jenseits des einstigen amerikanischen Traums die Energien und Utopien einer Nation im Umbruch einzufangen.
Ob Texte, Fotos oder Persönlichkeiten, die verschiedenen Anregungen, die Beckermann zu ihren essayistischen Arbeiten verleiten, sind so vielfältig, dass sich trotz der Schwere ihrer Themen insgesamt ein schillerndes Œuvre ergibt: Während sich Ein flüchtiger Zug nach dem Orient (1999) als ein Film über die Schaulust offenbart, die aus Kaiserin Elisabeth von Österreich «eine Vorbotin der Moderne» macht, handelt es sich bei Die Geträumten (2016) ebenfalls um eine Literaturverfilmung der anderen Art, die auf dem in Buchform vorliegenden Briefwechsel zwischen dem Dichter Paul Celan und der Lyrikerin Ingeborg Bachmann basiert. Um die fantastischen Texte über die Leinwand spürbar zu machen, lässt die Regisseurin sorgsam ausgewählte Versatzstücke der Korrespondenz im Wechsel von dem Schauspieler Laurence Rupp und der Musikerin Anja Plaschg lesen – nur die Kamera ist als unaufdringlicher Begleiter im Tonstudio dabei, beobachtet aufmerksam, was geschieht, auch in den Pausen. Auf diese eigentümliche, werkwürdig stimmige Art und Weise der Inszenierung verdichtet Beckermann Worte und Bilder, Fakten und Emotionen zu einer semidokumentarischen Erzählung über eine äusserst komplizierte, heftig umkämpften Liebe und Freundschaft.
Dokumentaristin, Essayistin, Poetin – all das ist Ruth Beckermann in einem Satz und in jedem Film. Dichtung und Wahrheit gehen bei ihr stets zusammen. Das Fremde und das Vertraute, das aus ihren Arbeiten spricht, machen ihr Werk zugänglich und endlos faszinierend zugleich. Dieses eindringliche Aufeinanderprallen gegensätzlicher Zeiten und Welten, Menschen und Gedanken, Fiktionen und Wirklichkeiten ist in seiner stets klug montierten, bestechend schlichten, ehrlichen und sensiblen Form ganz grosses Kino, das es zu entdecken gilt.
Pamela Jahn

Pamela Jahn ist Autorin, Kuratorin und Filmjournalistin und schreibt u. a. für «Sight & Sound» und das «Electric Sheep Magazine». Sie lebt in London.