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Fremde Heimat: Drehort Schweiz

Ein Reiseführer der besonderen Art lädt dazu ein, die Schweiz neu zu entdecken und zu vermessen. Thomas Blubacher hat mehrere Hundert Filme mit Drehort Schweiz zusammengetragen und das Ganze mit vielen amüsanten Anekdoten gewürzt. Wir sagen: Einsteigen bitte zu einer kleinen Tour de Suisse auf der Kinoleinwand! Reisebegleiter Georg Seesslen macht sich in unserem Essay derweil Gedanken darüber, ob ein Berg in einem Film immer nur ein Berg ist – und in einem prominent besetzten Podium fragen wir, wie Landschaft sozial konstruiert wird. Was macht eine Film-Erzählung aus? Natürlich zuerst ein Plot mit Bedeutungen und Spannungen. Dann die Charaktere zwischen Faszination und Identifikation. Und schliesslich, bei der Kritik oft zu wenig beachtet: der Ort, oszillierend zwischen Utopie und Dystopie, zwischen der Idylle einer heilen Welt, ihrer erdrückenden Enge oder der entwirklichenden Verlorenheit endloser Weiten. Mitten drin die Realität, an der es sich auch immer wieder abzuarbeiten gilt. Ein Kino-Ort muss nicht nur lesbar und bewohnbar sein, für zwei Stunden immerhin, er muss selber leben. Er muss eine Aura haben, eine Seele, eine Lebenstemperatur.
Dem traditionellen ästhetischen Ideal wird entsprochen, wo alle drei, die Geschichte, die Charaktere und der Handlungsraum, eine harmonische Einheit bilden, wie, sagen wir, in den Western von John Ford. Als «Kitsch» empfindet man dagegen, was eine solche Einheit als Zeichenspiel nur behauptet, wie etwa im «Heimatfilm» und seinem TV-Echo. Aber cineastische Energie entsteht auch aus bewusst oder instinktiv eingesetzten Widersprüchen, etwa wenn die grausamsten Dinge in der schönsten Landschaft geschehen oder Landschaften und Architekturen, die man zu kennen meint, buchstäblich «in anderem Licht» erscheinen. Einen uninteressanten Film erkennt man an seiner Gleichgültigkeit oder Blindheit gegenüber seinem Ort.

Von Bergen, Käse, Uhren und Banken
Auf jeden Ort gibt es innere und äussere Blicke. Der äussere Blick empfindet eine schweizerische Berglandschaft als «herrliche Kulisse» oder als Herausforderung, sich ihr in irgendeiner sportiven oder heroischen Weise zu stellen. Ein innerer Blick sieht stattdessen auch, wie hart es hier ist, das Lebensnotwendige dem Berg abzuringen, und wie er sich unter dem äusseren Blick in eine faule Fantasie-Ware verwandelt. Das Kino als Kunst des Blick-Wechsels kann uns den Ort neu sehen lassen. In der Auflösung des Klischees, in der Suche nach der verborgenen Magie und in der mehrdimensionalen Realität. So viel cineastische Wahrheit kann dann in den symbolisch überhöhten, gemalten Alpenlandschaften in Ernst Lubitschs Melodrama Eternal Love (1929) wie in der unbarmherzig realistischen Kamera des Guerilla-Shootings von Reisender Krieger (1981) stecken.
Es gibt aber auch die funktionale Vorstellung vom Drehort, wie sie uns Alfred Hitchcock (mit seiner typisch stoischen Ironie) erklärt: Wenn ein Film in der Schweiz spielt, müssen Berge, Käse, Uhren oder Banken darin vorkommen, und zwar als funktionierende Elemente der Handlung. Das macht es einem James Bond-Film leicht, seinen Die-Welt-als-Abenteuerspielplatz-Blick zu entfalten, denn dieser Blick ist radikal veräusserlicht. Bei einem James Bond à la Roger Moore ohne jeden Tiefgang klappt das hervorragend, Aber bei einer Geschichte wie der, die Peter Hunt in On Her Majesty’s Secret Service (1969) erzählen will, nämlich dass bei einem staatsterroristischen Weltreisenden mit der Lizenz zum Töten das Spektakel durchaus auch in die Tragödie kippen kann, will das nicht mehr gelingen. Nur noch höhnisch wirkt nach dem brutalen Mord an Bonds Gattin das Weiss des Piz Gloria. Durch und durch funktional dagegen wirkt The Eiger Sanction (1975) von und mit Clint Eastwood: Der Ort ist ein Problem, das es zu lösen gilt, oder er bietet Lösungen für die Probleme der Helden. Ein Showdown am Berg, der sich weigert, die Gefühle der Menschen zu widerspiegeln. Denn mit diesen Gefühlen ist es nicht weit her. Der «berühmte» Schweizer Berg soll die an sich nichtssagend-zynische Story retten und verweigert sich. Der Berg ist, mit anderen Worten, der einzige wirkliche Star des Films.

Idyll oder Vorraum zur Hölle
Dass die Schweiz im Film durch die Schweiz dargestellt wird, hat also nicht das Geringste mit einer Wahrheit über sie zu tun. Man kommt zu einer anderen, inneren Wahrheit durchaus auch durch ein Stand-in. Die Schweiz in Ernst Lubitschs Eternal Love, seiner Verfilmung von «Der König der Bernina», setzt sich aus amerikanischen Felsen und Kulissenmalereien zusammen, aber gerade dadurch wird sie zu einem Spiegel der Empfindungen, einer Seelen-Landschaft, die von Beginn an einen Sog auf die Liebenden ausübt, die schliesslich in nekrophiler Seligkeit sich vom Berg buchstäblich verschlingen lassen, da Intrige und Engstirnigkeit ihrer Umwelt ein gemeinsames Leben unmöglich gemacht haben.
Und dann gibt es noch die Schweiz als der Ort, an den man sich vor den Problemen der Welt zurückzieht - nur um sie heillos zu verdichten. Für Godard ist sie ohnehin dieser Ort ausserhalb der Welt … Der Blick auf den Genfersee ist in King Lear (1987) identisch mit einem «Loch», in das die Dinge und Worte verschwinden und anders wiederkehren, wie auch in Nouvelle Vague (1990) dieser Genfersee, Godards «Heimat», wie ein Totenmeer erscheint. In The Unbearable Lightness of Being (1988) dagegen ist Genf der Ort des Exils und der Entwirklichung von Tomáš und Teresa auf ihrer Flucht aus Prag und vor den russischen Truppen. Der Ort, der Fremde bleibt, der die Liebenden gar voneinander entfremdet, ein Un-Ort. Und noch einmal weiter in Richtung Unterwelt geht es in Dario Argentos Phenomena (1985), einer Variation des düsteren Märchens vom Mädchen und dem Unhold. Für Jennifer Corvino, die hier das Pensionat «Richard Wagner» (das Museum Rietberg) besucht, entpuppt sich die idyllisch gelegene Züricher Villa als Vorraum zur Hölle. Die Schweiz inszeniert als «unheimlicher» Ort, ein Ort, an dem das scheinbar Vertraute sich als abweisend oder gefährlich erweist.

Das ungeschminkte Land
Im Gegensatz zu solcher Schweizer Finsternis, die man von aussen in sie hineinsehen mag, steht jener innere Blick, der dorthin gerichtet ist, wo kein Klischee greift. Es ist der Blick hinter die Postkartenidyllen wie in den Filmen von Alain Tanner, Messidor (1979) als Schlüssel vielleicht – eine Reise durch die Schweiz, die in Wahrheit eine Flucht ist. Erst wenn man genauer hinsieht, erkennt man die zärtliche Trauer, mit der dieser Regisseur sein Land ansieht: die Schweiz, ein Ort des Leidens und daher des Mit-Leidens. Ganz anders Clemens Klopfenstein, der seine Rückseite der Schweiz als Potenzial der Revolte zeigt, direkt in den eisigen Gassen von Bern, wo der festsitzende und frustrierte Nachrichtensprecher Max Gfeller in E nachtlang Füürland (1981) buchstäblich den Halt verliert und mit einer Zufallsbekanntschaft durch die Nacht schlittert. Mit einem Traum vom Weggehen, der sich nicht erfüllt. Und schliesslich die Schweizer Odyssee Reisender Krieger (1981): nicht eigentlich schwarz-weiss, sondern eher grauingrau. Ein Vertreter für Kosmetika in einem vollkommen ungeschminkten Land. So unmittelbar ist die Gegenwärtigkeit des Ortes, dass man ihn nicht nur zu sehen, sondern auch zu riechen meint.
Es gibt die zwei diametralen negativen Raum-Erfahrungen: zu weit und zu eng. Von beidem hat die Schweiz, als Drehort gesehen, also als ein Ensemble von Blick-Möglichkeiten zwischen Klischee, Magie und Realität, enorm viel zu bieten. Das Unerreichbare und Verlorene. Und das Bedrückende und Entwirklichende. Aber auch das Erlösende und das Tröstende. Es ist eben dies immer wieder zu entdecken, im Kino und anderswo, das Fremde in der Heimat, und die Heimat in der Fremde.
Georg Sesslen

Georg Seesslen schreibt über Film und anderes.