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As Time Goes By: Die Magie der filmischen Langzeitbeobachtung

Ein Leben im Zeitraffer und in wenigen Stunden erzählt. Politische Systeme, die vor unseren Augen erstehen und wieder zusammenbrechen. Städte und Landschaften, die sich tiefgreifend verändern. Wie kaum ein anderes Medium kann Film Zeit sichtbar machen und damit vielleicht das Geheimnis unseres Daseins etwas lüften. Wie glückt ein Leben, wie scheitert es? Wo wurden wann welche Weichen gestellt? Das Filmpodium wird zur Zeitmaschine und präsentiert eine Auswahl der spannendsten Langzeitbeobachtungen: Vom britischen Sozial-Experiment Up zu Volker Koepps lyrischer Studie über Textilarbeiterinnen in Wittstock, dem Erwachsenwerden zweier Schwarzen Highschool Basketballer in den USA (Hoop Dreams) zu Helena Třeštíkovás Begegnung mit dem charismatischen Outlaw René. Zu Gast zwei der ganz Grossen: Der deutsche Chronist Volker Koepp und die tschechische Regisseurin Helena Třeštíková. In einem prominent besetzten Podium fragen wir zudem nach Chancen und Herausforderungen dieser filmischen Spielart. «Film hat mich schon immer fasziniert wegen seiner Fähigkeit, Dinge einzufangen», erklärt Sam Klemke am Anfang des Films, der seinen Namen trägt: Sam Klemke’s Time Machine (2015). Klemke ist ein Filmenthusiast, ein YouTuber avant la lettre, der in den 1970er-Jahren anfängt, das eigene Leben auf Film festzuhalten: «Film kann alles erfassen, was er sieht, aber vor allem erfasst er: Zeit.» Für Langzeitbeobachtungen ist das eine schöne Definition, denn das Verführerische an Langzeitbeobachtungen ist letztlich genau das – die Zeit, die dokumentiert wird, die klar erkennbare Veränderung in Vorher-nachher-Bildern von Menschen und Landschaften, Orten und Gesellschaften.
Darauf versteht sich kaum jemand so gut wie Helena Třeštíková. 1949 geboren, studierte sie auf der Prager Filmhochschule (FAMU) und debütierte 1975 mit dem kurzen Film Miracle über die Kindheitsfreundin Jana, deren Mann Petr und die Geburt des gemeinsamen Sohnes Honza. Ein Anfang, auch für das Werk von Třeštíková, die diesem Leben 37 Jahre lang mit der Kamera folgen wird. Der Film bewegt sich entlang der Aufzeichnungen, die der Vater über das Aufwachsen des Kindes gemacht hat, und kontrastiert das Familienleben mit Fernsehbildern, die die politischen Entwicklungen und Verhältnissen in der ČSSR und der Tschechischen Republik vor und nach 1989/90 markieren. Private Universe (2012) ist ein so eleganter wie treffender Titel für diese Langzeitbeobachtung, weil damit die Grösse von Třeštíkovás ausdauernder Unternehmung beschrieben wird, die dem Leben so lange mit der Kamera zuschaut, bis etwas Universelles sichtbar wird.
Für Helena Třeštíková ist die Langzeitbeobachtung der Normalfall dokumentarischen Arbeitens. Immer hat die Filmemacherin mehrere Projekte zeitgleich betreut – neben Private Universe etwa die «Ehe-Etüden» Marriage Stories (1987/2006), in denen sie Paare mehr als 20 Jahre lang beim Zusammensein porträtiert (was auch heissen kann: beim Sichtrennen). Eine besondere Arbeit ist der noch vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs begonnene Film über den Strafgefangenen René Plášil: René (2008) rückt eine Figur am Rande der bürgerlichen Gesellschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Film hält ein Leben fest, für das sich gemeinhin kaum jemand interessiert. In gewisser Weise «erschafft» Třeštíková den hochintelligenten Kriminellen René sogar erst, wie die Fortsetzung René – The Prisoner of Freedom (2021) belegt. Dort steht am Anfang die mediale Popularität des charismatischen Protagonisten als Buchautor und Talkshow-Gast, die sich dem Film von 2008 verdankt. Die Geschichte handelt also auch von wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Filmemacherin und Protagonist, die Třeštíková transparent macht.

Der fremde Blick auf das eigene Leben
Die längste Langzeitdokumentation der Filmgeschichte kommt allerdings aus Grossbritannien. Seven Up! hiess der 40-minütige Film, der 1964 im britischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. 20 Kinder im Alter von sieben Jahren, die über sich und ihre Welt Auskunft geben. Obwohl die Dokumentation anfangs gar nicht als Serie gedacht war, veröffentlichte der 2021 verstorbene Michael Apted, bei der ersten Folge noch Assistent und ausserhalb Grossbritanniens bekannter als Spielfilmhandwerker etwa von James-Bond-Abenteuern, alle sieben Jahre eine neue Folge; das letzte Mal 2019 – 63 Up. Schon beim zweiten Film ist die (vermeintliche) mediale Unschuld des Auftakts verschwunden, wenn die 14-jährigen Teenager kritisch-verschämt auf die Bilder blicken, die sie als Kinder zeigen. So kommentiert sich die Up-Serie auch permanent selbst, ordnen die Protagonist:innen mittels des Blickes des über die Jahre vertrauten Beobachters Apted das eigene Leben. «Hab’ ich dich seit dem Tod deines Vaters schon gesehen?», fragt der Filmemacher Nick in 63 Up. «Du kennst mich, Michael, ich hab’ mich damit noch nicht völlig auseinandergesetzt», antwortet dieser über sein Ringen mit dem Verlust. Dem Sog, den die wiederkehrenden Gespräche mit den älter werdenden Protagonist:innen durch die Zeit hindurch entfalten, ihren Gesichtern, in die sich das Leben einschreibt, kann man sich nur schwer entziehen. Wer zuschaut, will wissen, wie es weitergeht. Dabei steht, und das war einst Prämisse des Projekts und davon handelt es die ganze Zeit, im Alter von sieben Jahren schon ziemlich viel fest über den weiteren Lebensweg.
Apted hat sein Projekt entlang von Klassengrenzen entworfen, und dieser Kontrast macht den Reiz der Serie aus. Dass etwa die schnöselig-artikulierten Reichenkinder John und Andrew, die im ersten Film schon die «Financial Times» und andere Zeitungen ihrer Väter lesen (oder das zumindest behaupten, ohne rot zu werden), genau in den Oxbridge-Eliteunis landen, von denen sie wissen, dass ihnen der Platz dort zusteht, überrascht nicht. Von den finanziell weniger gut ausgestatteten Familien gelingt nur dem Bauernsohn Nick der Aufstieg zum Professor in den USA.
Die Up-Serie ist in ihrer Vorfreude aufs Jahr 2000 ein Produkt der Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit. Etwas von diesem Geist findet sich auch am Anfang von Volker Koepps Wittstock-Zyklus (1975–1997). Der erste Film Mädchen in Wittstock beginnt als Reportage über die Arbeit in einer neuen Textilfabrik, die offiziell als Zeichen des DDR-Fortschritts gilt, deren Unzulänglichkeiten aber schon damals beklagt werden (fehlende Fenster!). Koepp ist von den klassischen Langzeitbeobachtern der essayistisch Verspielteste. Die Wittstock-Filme registrieren aufmerksam auch, was im Off der Hauptfiguren passiert, also die Landschaft, deren Geschichte und Veränderung. Der historische Raum, den der Wittstock-Zyklus eröffnet, wird durch das elegante Schwarzweiss der tollen Kameraarbeit (Christian Lehmann, Thomas Plenert) markiert. Schwarzweiss ist hier kein Mangel an Farbe, kein Zeichen von überholter Aufnahmetechnik, sondern macht es möglich, den Blick auf das Wesentliche, auf die Geschichten der Menschen zu konzentrieren.
Der politische Umbruch von 1989/90, das Ende der DDR, eröffnet dem Zyklus eine zusätzliche historische Dimension und neuen, brisanten Erzählstoff. Ausgerechnet die tapfere Edith, die immer den Mund aufmacht im Betrieb und die Dinge benennt, die nicht funktionieren, ist die Erste, die 1990 entlassen wird. Ein prekärer Moment, der auch eine Frage aufwirft, der sich alle Langzeitbeobachtungen stellen müssen: Wie umgehen mit den Misserfolgen, den Momenten, in denen das Leben nicht gut aussieht? «Lass mal die Kamera weg», bittet Edith, Koepp reagiert verzögert, markiert den Moment des Unterbrechens aber durch eine kurze Schwarzblende.

Ein Archiv, das die Zeit festhält
Film hält aber nicht nur fest, was da ist, sondern auch, was fehlt: In James Bennings Milwaukee-Porträt One Way Boogie Woogie (1978) zeigt der Filmemacher den Ort der eigenen Kindheit, aufgelöst in 60 feste Einstellungen. Wenn Benning 27 Years Later dieselben Aufnahmen noch mal macht, hat sich die Welt vor der Kamera verändert: Häuser fehlen, Menschen haben graue Haare gekriegt, Fassaden sehen anders aus. Ums Kindsein geht es auch in Richard Linklaters ungewöhnlichem Spielfilmprojekt Boyhood (2014). Die Dreharbeiten haben sich über zwölf Jahre erstreckt, damit auf doppelte Weise vom Coming of Age, der Adoleszenz eines Jungen und seiner Schwester erzählt werden kann. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, also auch die Eltern (Patricia Arquette und Ethan Hawke), altern durch die lange Drehzeit tatsächlich unmerklich mit. Und das macht das Binge-Watching von Biografien im Laufe ihrer Verfertigung, das Langzeitbeobachtungen gestatten, so attraktiv. Es passiert am Ende zwar immer nur das, was allen passiert – Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Liebe, Scheidung und Verlust. Aber es vollzieht sich vor unseren Augen und geschieht Figuren, die einem im Laufe der Zeit vertraut und nahe sind.
Das Projekt One Way Boogie Woogie / 27 Years Later erinnert derweil daran, dass das Vergehen von Zeit nicht nur einen sentimental-persönlichen Kern hat. Denn was sich in der Transformation des Kindheitsortes vor der Kamera von James Benning ereignet, ist der Strukturwandel von Gesellschaft, der im Hintergrund privater Leben passiert.
In diesem Fall geht es um den Niedergang einer alten Industrie, beim eingangs erwähnten Sam Klemke um das Aufkommen einer neuen. Das ist zumindest die berührende Pointe von Sam Klemke’s Time Machine, dem Kompilationsfilm, den der Regisseur Matthew Bates aus dem selbst aufgenommenen Material montiert hat. Denn irgendwann entsteht um Klemkes stetiges Dokumentieren des eigenen Lebens – auch wenn es lange Zeit nicht so glorreich verlief wie vielleicht erhofft – mit YouTube ein Kontext, in dem Klemkes ganze Pionierarbeit sinnhaft wird – ein Archiv, in dem Zeit festgehalten ist.
Matthias Dell

Matthias Dell ist Medienjournalist, freier Redaktor und Autor beim Deutschlandradio. Er schreibt u.a. für «Cargo». Im Frühling erscheint sein Buch «Peter Hacks auf der Fenne in Gross Machnow (1974–2003)» im Verlag für Berlin-Brandenburg.

Die Filmreihe ist eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Stadtkino Basel und in Kooperation mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich entstanden. Herzlichen Dank für die schöne Zusammenarbeit! Ein grosser Dank geht auch an Marian Petraitis für die Unterstützung bei der Konzeption der Reihe.