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Alain Tanner: Nouveau cinéaste suisse

Alain Tanner (1929–2022) hat wie kaum ein anderer die Schweizer Filmlandschaft geprägt, als Filmautor, als Vorkämpfer neuer Förderstrukturen und als Verfechter einer Kinokultur jenseits des kommerziellen Mainstreams. Sein Werk liefert nicht nur Vorbilder für starke Frauenfiguren und eine dissidente politische Haltung, sondern auch Inspirationen für eine poetische und utopische Filmsprache. Als Alain Tanner am 11. September 2022 mit 92 Jahren verstarb, ging ein kurzer Ruck durch den hiesigen Filmjournalismus, bis die Nachricht zwei Tage später durch die Meldung des Todes eines anderen Altmeisters der gleichen Generation, Jean-Luc Godard, abgelöst wurde. Wie beim sprichwörtlichen Propheten, der nirgendwo weniger gilt als im eigenen Land, war es in der Schweiz schon lange still um den Genfer Cineasten, der sich 2004 nach rund zwanzig Spielfilmen und mehreren Dokumentationen vom Filmemachen verabschiedet hatte. Er erhielt zwar 2010 die späte Anerkennung eines Ehrenleoparden am Filmfestival Locarno, doch im Allgemeinen schien man es ihm hierzulande nicht zu verzeihen, dass er mit seinen letzten Filmen weder Filmkritik noch Publikum im gleichen Ausmass wie bei seinen früheren Werken begeistern konnte.
Derweil bleibt Tanner aus internationaler Sicht der bekannteste und beliebteste Schweizer Vertreter eines europäischen Autor:innenkinos, das seit der Nouvelle Vague der 1960er-Jahre Poesie und Politik, Romantik und Rebellion miteinander verwebt. 2017, anlässlich einer Retrospektive in New York City, lobte ihn das Magazin «Vogue» als besonders inspirierendes Vorbild für eine kulturelle Gegenöffentlichkeit im Zeitalter von Donald Trump. Seine Filme seien nicht nur «klug, lustig und sexy», sie würden sich auch mit äusserst aktuellen Themen auseinandersetzen, wie der Suche nach Freiheit und Glück in einer von Geld geprägten Welt, oder mit der Frage, wie man in Zeiten politischer Desillusionierung weitermachen solle. Ein Nachruf in der kanadischen Zeitschrift «Cinema Scope» betonte, wie raffiniert Tanner sein intellektuelles Denkvermögen mit einer sinnlichen und radikalen Filmsprache zu verbinden vermochte. In seiner 2007 erschienenen Denkschrift «Ciné-mélanges» beschrieb Tanner seine Methode als spielerischen Umgang mit dem Publikum, «um es in die Lage zu versetzen, den Gegensatz zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, zu begreifen».

Lebenskrisen und Rebellionen
Seine ersten Spielfilme drehte Tanner unmittelbar nach dem Protestjahr 1968. Die damalige Stimmung aus utopischer Hoffnung, rebellischem Geist und Frustration gegenüber der eigenen Machtlosigkeit prägte sein Werk, und die Frage, inwiefern das Kino Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse leisten könne, liess ihn zeitlebens nicht mehr los. Nicht von ungefähr machen Tanners Filmfiguren fast immer eine Art Lebenskrise durch. Oft sind sie auf der Flucht und bleiben schliesslich in der Kluft zwischen visionären Träumen und den Verstrickungen des Alltags hängen. Zu seinen unvergesslichen Held:innen gehören der aussteigende Fabrikbesitzer Charles in der Midlife-Krise (Charles mort ou vif, 1969), die aufmüpfige junge Gelegenheitsarbeiterin Rosemonde (La Salamandre, 1971), der sinn- und liebessuchende Schiffsmechaniker Paul (Dans la ville blanche, 1983) und die ebenfalls sinn- und liebessuchende Schauspielerin Mercedes (Une flamme dans mon cœur, 1987).
Tanner schuf eine Reihe von aussergewöhnlichen Frauenfiguren, die in der Kinogeschichte hervorstechen, allen voran die abenteuerlustigen Rebellinnen Jeanne und Marie aus Messidor (1979), einem Roadmovie, das Ridley Scotts Thelma and Louise (1991) vorwegnahm. Die meisten seiner Filme sind – unter anderem dank der Wahl der Schauplätze und der unüberhörbaren Dialekte – unverkennbar schweizerisch und gleichzeitig universell in ihrer Erzählkraft.
Ein Markenzeichen von Tanners Erzählstil ist sein Verzicht auf den traditionellen Spannungsbogen und den unsichtbaren Schnittübergang. Er setzt auf eine Dramaturgie aus Vignetten, in der die Handlung oft pausiert zugunsten einer ausführlichen Szene, die aus der Geschichte herausragt und dem Publikum erlaubt, innezuhalten und über die Zusammenhänge nachzudenken. Als Filmemacher war Tanner ein Philosoph des Alltags und des nur flüchtig greifbaren Augenblicks, in dem die Zeit kurz stillsteht. Damit stellte er sich gegen den Naturalismus des konventionellen Erzählkinos, ähnlich wie Brechts episches Theater, das die Unterhaltung durch Denkanstösse unterbricht, oft kombiniert mit literarischen und musikalischen Zitaten. Diese Balance perfektionierte Tanner mit Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 (1976), seinem erfolgreichsten und vielleicht auch gelungensten Spielfilm, der wohl am besten die erwähnte Mischung aus gescheit, humorvoll und sexy verkörpert. Das Ensemblespiel zeigt eine Gruppe mehr oder weniger engagierter Menschen, irgendwo zwischen der verlorenen Euphorie der 68er-Bewegung und einer ungewissen Zukunft. Ihre Stimmung ist eine Mischung aus Nostalgie, Ironie, Wut, Hoffnung und Resignation: die Quintessenz von Tanners Weltbild.

Filmpolitischer Vorkämpfer
Alain Tanners Wurzeln im Dokumentarischen bleiben auch in seinen Spielfilmen spürbar. Am Anfang seiner Karriere drehte er einige Dokumentationen fürs Westschweizer Fernsehen und schärfte so sein Gespür für Alltagsbeobachtungen, fliessende Kameraarbeit und elliptische Montage. Zu diesen Anfängen kehrte er 1995 zurück mit Les hommes du port, einer Hommage an die Hafenarbeiter von Genua, wo er als junger Mann in einer Reederei gearbeitet hatte. Der Film verbindet persönliche Erinnerungen mit einem poetischen Blick auf die Gesten des Arbeitsalltags und einer präzisen politischen Analyse der Veränderungen, die der Neoliberalismus mit sich bringt.
Tanner ist auch bekannt als Miterfinder des «cinéma copain», was so viel bedeutet wie: in einem kleinen Team aus Freund:innen mit bescheidenen Mitteln und weitgehend improvisiert drehen. Schon 1957 machte er unter dem Einfluss des britischen Free Cinema seinen ersten Kurzfilm Nice Time in London gemeinsam mit seinem Landsmann Claude Goretta. Diese Vorgehensweise führte unter anderem zur Gründung der Groupe 5, der auch Claude Goretta und weitere Westschweizer Kollegen angehörten. Die Groupe 5 war essenziell für die Entwicklung des «nouveau cinéma suisse» ab den 1960er-Jahren, das dem Schweizer Filmschaffen neues Leben einhauchte, unverbrauchte Stimmen hervorbrachte und die Aktivdienstgeneration filmisch ablöste.
Tanner spielte auch in der Schweizer Filmpolitik eine wichtige Rolle. Als Mitbegründer der Association suisse des réalisateurs (heute: Verband Filmregie und Drehbuch Schweiz) sass er in der ersten Eidgenössischen Filmkommission, die 1963 das neue Filmgesetz mitbestimmte und erstmals Fördergelder vom Bund für die Filmproduktion sicherte. 1972 war er Mitbegründer des CAC-Voltaire, heute Les Cinémas du Grütli, um eine alternative Kinokultur in Genf zu fördern. Durch diese Tätigkeiten sorgte er für ein nachhaltiges filmisches Erbe jenseits der eigenen Werke.
Marcy Goldberg

Marcy Goldberg ist selbstständige Film- und Kulturwissenschaftlerin.

Das Filmpodium dankt seinem Förderverein Lumière für die Unterstützung dieser Reihe. Dank gebührt auch der Association Alain Tanner, die Tanners Werk verwaltet und gemeinsam mit der Cinémathèque suisse für dessen Digitalisierung und Restaurierung sorgt.