Michel Bodmers Abschiedsprogramm: Preziosen eines Perlentauchers
Gerne hätte ich mein Abschiedsprogramm «Trouvaillen eines Trüffelschweins» genannt, aber so hat schon mein geschätzter Vorgänger Andreas Furler 2013 seine letzte Filmreihe betitelt. Allerdings: Trüffelschweine dürfen die aufgestöberten Delikatessen in der Regel nicht geniessen, wir Kurator:innen beim Filmpodium aber sehr wohl. Darum will ich einige der cineastischen Perlen, die ich hier entdeckt habe, vor meiner Pensionierung mit unserem Publikum teilen.
Dieser Schlussstrich markiert nicht nur das Ende meiner gut neuneinhalbjährigen kuratorischen Arbeit beim Filmpodium, sondern einer 36-jährigen beruflichen Beschäftigung mit Filmprogrammierung, die 1987 beim Schweizer Fernsehen begann. Die grundsätzliche Fragestellung war dabei immer die gleiche: Ist das sehenswert und, wenn ja, für wen? Egal, wie gut der Film einem selbst entspricht, er soll sein Publikum finden. Man muss beim Kuratieren also bisweilen von eigenen Vorlieben abstrahieren, aber in diesem Programm kann ich hinter jedem Film stehen.
Wie damals Andreas Furler habe auch ich primär Werke ausgewählt, die ich während meiner Tätigkeit beim Filmpodium entdeckte und die mir Eindruck machten. Es sind aber auch zwei Titel dabei, die wir in dieser Zeit aufgrund von Materialproblemen nicht zeigen konnten; inzwischen sind beide Filme restauriert worden. In der René-Clair-Retrospektive 2018 fehlte Le dernier milliardaire, in dem der Filmpoet 1934 die aktuelle Weltpolitik aufs Korn nahm: Der Milliardär Banco erlässt nach einem Schlag auf den Kopf als Herrscher des Zwergstaats Casinario ebenso autokratische wie absurde Edikte. Das gemahnt uns heute an den 45. Präsidenten der USA, aber die damaligen faschistischen Regimes in Italien und Deutschland verstanden den Film gut genug, um ihn gleich zu verbieten. In unserer Reihe zum albanischen Filmschaffen 2020 entfiel Tana (1958) von Kristaq Dhamo. Dieser erste albanische Spielfilm, entstanden in der Zeit von Enver Hoxhas totalitärem Regime, präsentiert mit der Titelheldin ein Frauenbild, das eher sozialistischen Utopien entsprang als der Realität der auch im Kommunismus patriarchalen Gesellschaft Albaniens.
Changierende Genres
Viele meiner Entdeckungen beim Filmpodium stammten aus der Frühzeit des Kinos. Der ehemalige Koleiter Martin Girod bemühte sich an unserem jährlichen Festival, den Stummfilm als pionierhafte Kunstform zu feiern und ihn vom Ruch des Trivialen und der gemeinen Assoziation mit Slapstick-Komik zu befreien. Ich habe zwei Werke ausgewählt, die das Changieren solcher Genres belegen: Carl Theodor Dreyer, schwerblütig-philosophischer Exponent des nordischen Filmschaffens, drehte 1920 mit Prästänkan/Die Pastorenwitwe einen Film, der als handfester Klamauk mit grotesken Einfällen beginnt, bevor er in eine ernste Auseinandersetzung mit Liebe, Ehe und dem gesellschaftlichen Status der Frau mündet, wie man es von ihm erwartet. Und Gloria Swanson, legendär als Königin des Melodramas, hatte ein komisches Talent, das ihr erlaubte, in Stage Struck (1925) ihre eigenen Ambitionen als Tragödin auf die Schippe zu nehmen.
Während der späte Stummfilm zu Recht als Höhepunkt des visuellen Erzählens gilt, nimmt im frühen Tonfilm die Pre-Code-Ära in Hollywood einen anderen Sonderstatus ein: Damals entstanden die sprachlich frechsten und inhaltlich kühnsten amerikanischen Filme, bis in den 60er-Jahren die Selbstzensur der Kinobranche gelockert wurde. Ein besonders schönes Beispiel ist Baby Face (1933), in dem Barbara Stanwyck als jugendliches Opfer sexueller Ausbeutung den Spiess umdreht und sich in den chauvinistisch-kapitalistischen USA buchstäblich in einem Geschäftshaus nach oben schläft. Subtiler ist die Amerika-Kritik in Billy Wilders A Foreign Affair (1948): Zuerst führt er dem Publikum die Ruinen Deutschlands vor Augen, die die Bomben der Alliierten hinterlassen haben; dann schickt er Jean Arthur als Tugendwächterin in den Untergrund Berlins, wo sie in der Konfrontation mit der korrupten, aber lebendigen Tingeltangelsängerin Marlene Dietrich bald alt aussieht. Eine weitere Aussenseiterin in der sexistischen Nachkriegsgesellschaft ist Claudia Cardinale, die in Valerio Zurlinis La ragazza con la valigia (1961) versuchen muss, sich abseits der Willkür männlicher Begierde durchzuschlagen. Auf sexuell ausgehungerte Kerle stossen auch die gestrandeten Krankenschwestern, die in Blake Edwards’ Komödie Operation Petticoat (1959) von einem ramponierten U-Boot aufgefischt werden. Doch die Matrosen, angeführt von Cary Grant und Tony Curtis, müssen lernen, mit den Frauen auszukommen, wenn sie nicht untergehen wollen.
Film noir und «female gaze»
Gleich drei Werke aus den 50er-Jahren demonstrieren die Vielfalt des Film noir: His Kind of Woman (1952) von John Farrow versetzt den stoisch-lethargischen Robert Mitchum in eine Intrige, die ihn das Leben kosten soll, samt Techtelmechtel mit der fatalen Femme Jane Russell, aber Vincent Price als schräger Shakespeare-Verehrer bringt den Film auf einen ganz anderen Kurs. Nightfall (1957), nach einem Roman von David Goodis, folgt den Genre-Mustern schon enger, führt die Handlung aber aus der nächtlichen Grossstadt in die schneeweissen Berge und konfrontiert Aldo Ray und die junge Anne Bancroft mit zwei ebenso ungewöhnlichen wie skrupellosen Gangstern. Mit The Hitch-Hiker (1953) schliesslich bewies Ida Lupino, dass sie einen mindestens so beklemmenden Noir inszenieren konnte wie ihre Kollegen; ihr psychopathischer Autostopper ist ein Vorbote der unberechenbaren Gewaltverbrecher, wie sie in den 60er- und 70er-Jahren aufkommen sollten.
Eine andere Schauspielerin, die hinter die Kamera wechselte, ist Kinuyo Tanaka. Die Lieblingsdarstellerin von Mizoguchi und Ozu, die oft Prostituierte verkörpern musste, schildert in Die Nacht der Frauen aus weiblicher Sicht das Schicksal von Sexarbeiterinnen, nachdem Japan 1956 die Prostitution verboten hat. Cheryl Dunye spürt als Regisseurin und Hauptdarstellerin in The Watermelon Woman (1996) der klischierten Darstellung schwarzer Frauen in Hollywood nach. Ebenfalls einen «female gaze» richten zwei Algerierinnen auf Sitten und Religion in ihrer Heimat. Während Nadia Zouaoui dies im Dokumentarfilm Islam of My Childhood (2020) in Form einer offenen Diskussion über den verheerenden Einfluss des Wahhabismus tut, nimmt Yasmine Chouikh in Until the End of Time (2018) eine witzige Altersromanze als Aufhänger für eine Parabel über die Zustände in ihrem Land.
Die andere Heimat (2014) nennt Edgar Reitz sein pittoreskes Prequel zu seinem gewaltigen Epos über den Hunsrück und erkundet darin, wie viele Vorfahren sich aus wirtschaftlicher Not zur Emigration gezwungen sahen. Eher karg als idyllisch mutet auch das Landleben in Michelangelo Frammartinos Le quattro volte (2010) an, einem wortlosen Dokumentarfilm, der in einer der originellsten Plansequenzen der Filmgeschichte gipfelt.
Als Schlussbouquet (vor der Umbaupause im Juli) lassen wir nochmals The Rocky Horror Picture Show steigen, samt Kostümen, Reis, Konfetti und Wasserpistolen. Vor 50 Jahren uraufgeführt, ist dieses genderfluide Grusical nicht (un)totzukriegen. Tanzen wir also nochmals den Time Warp, solange im Frankenstein-Haus das Lämpchen noch glüht.
Michel Bodmer