¡Espectacular!: Mexikanisches Populärkino 1940 –1970
Superheldinnen in lila Bikinis, Pharaonen im Jeep, Desperados und gefährliche schöne Nachtclubsängerinnen in Melodramen, Noirs, Fantastika, Musik- und Horrorfilmen: Die Retrospektive des Locarno Film Festival taucht dieses Jahr tief in die mexikanische Filmgeschichte der 1940er- bis 1960er-Jahre ein, eine Periode, in der sich ungezähmte Kreativität mit sozialkritischem Anspruch und unbedingtem Form- und Unterhaltungswillen verbindet. Das Filmpodium lädt zur wilden Entdeckungsreise und macht sich mit Kurator Olaf Möller auf die Suche nach den filmischen Wurzeln von Cineasten wie Guillermo del Toro, Alfonso Cuarón und Alejandro González Iñárritu.
Die Retrospektive zum populären Kino Mexikos des Locarno Film Festival 2023 war eine Sensation: Das Publikum staunte über politisch subversive Musicals (La corte de faraón, 1944; Julio Bracho), moderne Melodramen (Más fuerte que el amor, 1955; Tulio Demicheli), surrealistische Komödien (El caso de la mujer asesinadita, 1955; Tito Davison), verstörende Western (Los hermanos del Hierro, 1961; Ismael Rodríguez), knallbunt-fidele Superheldinnen-Extravaganzen (La mujer murciélago, 1968; René Cardona) und wunderte sich von Tag zu Tag mehr darüber, dass man von all diesen abenteuerlustigen, formal wie inhaltlich wieder und wieder bahnbrechenden Herrlichkeiten noch nie etwas gehört hatte.
Um es gleich vorwegzunehmen: Mexiko befindet sich auf demselben Niveau wie Italien oder Frankreich, was die Dichte an Meister:innen, das Stargepränge oder auch die Genrevielfalt der Produktion angeht, sprich: die künstlerische Bedeutung. Ganz zu schweigen von der schieren Masse an Filmen: In der Hochzeit der mexikanischen Filmindustrie während der 1950er- und 1960er-Jahre entstanden hier alljährlich mehr Arbeiten als in den beiden nächstgrösseren spanischsprachigen Produktionsländern Argentinien und Spanien zusammen. Mexiko war das Schlüsselland für das Kino dieses Sprachraums, ein kosmopolitischer Ort, welcher Filmschaffenden aus Ländern wie Chile (Tito Davison), Kuba (René Cardona) oder Argentinien (Tulio Demicheli) neue Arbeitsmöglichkeiten bot sowie politisch Verfolgten aus Europa und den USA zusätzlich auch Schutz. Zu sehen ist von diesen Abertausenden von Werken letztlich aber immer dasselbe Dutzend an Titeln: eine Handvoll Standardklassiker von Emilio Fernández, ein, vielleicht zwei als «symptomatisch» geltende Filme von Roberto Gavaldón, Alejandro Galindo und gegebenenfalls noch von Ismael Rodríguez plus Luis Buñuel, versteht sich. Und das wars.
Die Ausdünnung auf ein paar designierte Meisterwerke steht im krassen Widerspruch dazu, wie präsent das mexikanische Kino in den Nachkriegsdekaden international war – und zwar nicht nur im Festivalbetrieb mit exquisiter Repräsentationskunst vor allem der oben genannten Regisseure, sondern auch im Kinoalltag, und das genau mit jener Art von populären Filmen, die erst in Locarno und nun hier im Filmpodium gefeiert werden. Diese Werke wurden allerdings fast immer als Konfektionsware zweiter bis dritter Güteklasse behandelt und durch Kürzungen oder vergröbernde Synchronisationen oft auch vulgarisiert, banalisiert. Matilde Landetas abgründig-feministischer Versuch über soziale wie ökonomische Gewaltverhältnisse,Trotacalles (1951), wurde so z. B. in der Bundesrepublik zum Sexploiter im Nuttenmilieu uminterpretiert und entsprechend ausgewertet, dito Tulio Demichelis süffisant-pointiertes Pamphlet zum Klassendünkel Más fuerte que el amor, das unter dem moralisierend-hämischen Titel Kein Kopf für seidene Kissen in der BRD als saftiges Stück Exotik-Erotica in den einschlägigen Theatern zu sehen war. Das Gleiche gilt für Dutzende von Ringer- und Horrorfilmen des Pop-Handwerkers René Cardona, die in den USA zu Einstündern für den Auto- und Landkinomarkt heruntergehackt wurden. Populäres Kino ist immer auch Attraktion und Verführung, doch wenn man diese zum Selbstzweck macht und den Werken ihre Intelligenz und Würde nimmt, droht Gefahr.
Eine andere Sicht
¡Espectacular! lässt ganz bewusst die allseitig abgefeierten Meisterwerke aussen vor: Hier geht es nicht um grosse Filme, sondern um die Grösse der mexikanischen Filmkultur an sich. Und damit um eine interessante Frage, nämlich: Was kann mexikanische Filmgeschichte heute noch alles sein – was wirkt an ihr jetzt bezeichnend, wegweisend, zukunftsträchtig? Was wusste dieses Kino schon alles, was heute relevant ist?
Die Antwort darauf findet sich oft in Filmen herausragender Regisseur:innen, welche lange als Nebenwerke betrachtet wurden – wenn sie nicht von ihren Macher:innen gleich selber desavouiert wurden –, wie etwa das gestalterisch immer wieder überraschende, neurotisch-existenzialistische Rachedrama Los hermanos del Hierro, das Ismael Rodríguez hasste. Vielleicht war ihm klar, wie scharfkantig sich hier eine sinnfrei-soziopathische Seite seines ansonsten so gut gelaunten Macho-Humanismus offenbarte – dass ihm sozusagen etwas unwiderruflich herausgerutscht war.
Ein Paradebeispiel für einen solchen unterschätzten Film ist Roberto Gavaldóns Días de otoño (1963), die Adaption einer späten Kurzgeschichte von B. Traven, welche in den letzten Jahren eine jüngere Generation mexikanischer Cinephiler für sich entdeckte. Mit Recht: Die Geschichte der jungen Luisa, die in die Hauptstadt kommt und sich dort immer tiefer in eine kleinbürgerliche Glücksfantasie inklusive imaginierten Ehemanns und Kind spielt und damit ihre Umgebung betrügt, offenbart elegant das Zwiespältige der frühen 1960er-Jahre mit ihrem neuen Wohlstand, der alten Armut und dem Lügengewebe, das diese beiden Seiten der Wirklichkeit Mexikos zusammenhielt. Die zentrale Frage des Films ist, wie bewusst sich Luisa der Farce ist, die sie da aufführt – was sie beabsichtigt, wenn sie erst die Jungverliebte, dann die Ehefrau, schliesslich die Mutter spielt, und ob sie das für sich oder für die anderen tut.
Grenzziehungen, Grenzüberschreitungen
Soziale Maskeraden, Grenzgänge zwischen den Klassen und ihren Realitäten finden sich oft in diesem Kino. Speziell zu erwähnen ist in diesem Kontext das Diptychon aus Fernando Méndez’ Sozial-Noir El suavecito (1951) und Alejandro Galindos Exposé zur illegalen Arbeitsmigration in die USA Espaldas mojadas (1955). Beide erzählen von den inneren wie äusseren Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Mexiko und dem nördlichen Nachbarn. Bei Méndez verstrickt sich ein Kleinkrimineller mit US-Gangster-Allüren in ein Netz aus Lebenslügen – bis dann der Zahltag kommt. Dasselbe gilt für eine Nebenfigur in Espaldas mojadas (bezeichnenderweise gespielt vom selben Darsteller, Víctor Parra), deren Untergang Galindo den Selbstfindungsprozess einer Mexiko-US-Amerikanerin gegenüberstellt. Eine ganz eigene Note steuert diesem Themenkomplex Chano Uruetas halb dokumentarische Sportlerlegende El gran campeón (1949) bei, in der sich ein mexikanischer Boxer, Kid Azteca (gespielt von ihm selbst!), aus den USA hoch- und in die Kapitale seiner Heimat kämpft – um von dort aus die ganze Welt zu erobern. Kid Azteca muss dabei auch einsehen, dass die Gringos vielleicht doch nicht so schmiergeldgierig sind, wie er immer dachte ...
Was uns zu zwei der formal wie politisch erstaunlichsten Werke des Programms bringt. Julio Bracho nutzte das narrative Gerüst sowie einige der berühmtesten Lieder einer im faschistischen Spanien verbotenen Zarzuela (ein traditionelles Musiktheater) in La corte de faraón, um sich über die einheimische Korruption auszulassen. Doch damit nicht genug: Der Film mixt wie wild Elemente von Art déco, Brecht’schem Theater, klassischem Ballett und Hollywoodmusical-Konventionen, um über Sinn wie Unsinn der Moderne spielerisch nachzudenken. Alfredo Bolongaro-Crevenna schliesslich griff bei seiner Transposition von Christa Winsloes krass preussischem Lesbenklassiker Mädchen in Uniform (1930) in ein katholisches Milieu auf die Ästhetik des Expressionismus zurück, um seinem antipatriarchalen Traktat Muchachas de uniforme (1951) eine angemessen neurotisch-grausame Dichte und Härte zu verpassen. Damals eher mit Verwirrung zur Kenntnis genommen, wirkt Muchachas de uniforme heute politischer denn je. Was bei genauerer Betrachtung für die meisten Werke dieser Auswahl gilt.
Olaf Möller
Olaf Möller (Köln/Helsinki). Schreibt über und zeigt Filme.
Zusatzinformationen:
Das Filmpodium dankt dem Locarno Film Festival und Olaf Möller, dem Kurator der Retrospektive «Espectáculo a diario – Las distintas temporadas del cine popular mexicano».