Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück

Stummfilmfestival 2024: Laut, frech und nasty

Rebellische Frauen, die vor und hinter der Kamera mit Furor, Unberechenbarkeit und Witz gegen den Status Quo aufbegehren, Agent:innen die mit modernster Technik dem Bösen begegnen und Menschen, die der Verlockung der Grossstadt erliegen: Das Stummfilmfestival 2024 setzt zu seinem 20-jährigen Jubiläum frische Akzente: Das Fokus-Thema – dieses Mal «nasty women» – ist neu. Ab 2024 bestreiten wir das Stummfilmfestival zusammen mit dem IOIC (Institute of Incoherent Cinematography). Hannes Brühwiler, Nicole Reinhard und Pablo Assandri zeichnen unterstützt von einem Beratungsteam (Martin Girod, Kristina Köhler und Daniel Wiegand) für das Programm verantwortlich. An zwei Abenden sind wir zu Gast im Schauspielhaus und im Moods. Ins Kino gingen von Beginn weg auch Frauen: Arbeiterinnen, Mütter mit Kindern, Schriftstellerinnen, Verkäuferinnen, Dienstmädchen, Migrantinnen. Noch bevor sich der männliche Blick in filmischen Erzähl- und Kamerakonventionen verankerte, richteten sich viele Filme dezidiert an dieses weibliche Publikum – sie erzählten Geschichten, in denen Alltagsthemen, Wünsche und Ängste von Frauen verhandelt wurden. Der Fokus des diesjährigen Stummfilmfestivals widmet sich den Frauen, hinter der Kamera und vor den Leinwänden. Er zeigt, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Halbdunkel des Kinosaals traditionelle Geschlechterklischees herausgefordert oder gar auf den Kopf gestellt werden konnten.
Gerade in Filmkomödien der 1910er-Jahre begegnen uns Frauenfiguren, die überraschend unangepasst, wild und rebellisch auftreten: Dienstmädchen, die bei der Hausarbeit die Wohnungseinrichtung zertrümmern, streikende Kindermädchen und Töchter aus gutem Haus, die Streiche aushecken oder Polizisten verprügeln. Diese Frauen tanzen, weinen und lachen so hemmungslos, dass ihre lustvolle Unangepasstheit «ansteckend» wirkt.
Diese Komikerinnen waren bei ihren Zeitgenoss:innen äusserst populär, gerieten aber in den letzten hundert Jahren in Vergessenheit. Unter dem Schlagwort #nastywomen sind Maggie Hennefeld, Laura Horak und Elif Rongen-Kaynakçi rebellischen Frauenfiguren in Filmarchiven nachgegangen. Bewusst stellen sie ihre Filmprogramme unter jenen Begriff, mit dem US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump seine Gegnerin Hillary Clinton während eines TV-Duells 2016 verunglimpfte und der alsbald zum positiv besetzten Motto einer feministischen Protestwelle avancierte: Als «nasty women» – also Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen – zogen Hunderttausende bei weltweit organisierten Women’s Marches durch die Strassen.
Solche Formen eines lustvoll-rebellischen Feminismus finden in frühen Filmen einen erstaunlich wirksamen Resonanzraum. Slapstick-Komödien boten ein ideales Genre, um Frauen in überbordend-unkontrollierter Körperlichkeit zu inszenieren: Sie zeigen den weiblichen Körper in exaltierten Bewegungen, feiern Affekt und Kontrollverlust mit raumgreifenden Gesten. Anstatt in bürgerlichen Wohnzimmern oder Küchen für Ordnung, Sauberkeit und Sittlichkeit zu sorgen, stellen diese Frauen Verwüstung und Anarchie her oder drängen auf die Strasse – wie die Suffragetten, die sich zur gleichen Zeit für das Frauenwahlrecht einsetzten.


Sprengkräfte
Als «Queens of Destruction» sind die «nasty women» zugleich divers angelegt: Da ist Tomboy Léontine, die mit diabolischem Grinsen Streiche anzettelt; da ist das Dienstmädchen Cunégonde, dessen «Missgeschicke» im bürgerlichen Haushalt auch als gezielte Attacken auf geordnete Klassenverhältnisse zu lesen sind. Und der Lach-Flash der Schwarzen Mandy Brown (gespielt von Bertha Regustus, einer der ersten afroamerikanischen Schauspielerinnen) in Laughing Gas (USA 1907) unterminiert die damals in den USA praktizierte Rassentrennung und ergreift sämtliche Körper – egal, ob weiss oder schwarz, Mann oder Frau.
Queere Subtexte eröffnen sich auch in Western oder romantischen Komödien der Zeit. In «Gender Rebels» entfaltet sich das Spektakel des Cross-Dressings: als Cowboys verkleidete Mädchen und schreckhafte Jungs mit viel zu kleiner Pistole. Im fantastischen Genre der Science-Fiction platziert Filibus (IT 1915) seine genderfluide Actionheldin, die Baroness Troixmonde, die sich in den Dieb Filibus verwandelt, mit ihrem Luftschiff Diamanten jagt und männliche Verfolger virtuos abschüttelt. Les résultats du féminisme (FR 1906) der französischen Regisseurin Alice Guy und What’s the World Coming To? (USA 1926) spielen lustvoll mit Verkehrungen von Geschlechter-Stereotypen: Was, so das in diesen Filmen angelegte Gedankenexperiment, wenn Frauen die politische Führung übernehmen und Männer Haushalt und Kinder versorgen würden?
Auch wenn diese Filme mitunter in konventionellen Arrangements (wie Hochzeiten) enden, die heteronormative und patriarchale Ordnung wiederherstellen, sollte das nicht über ihre Sprengkraft hinwegtäuschen. Mit ihren ambivalenten Erzählkonstellationen lassen sie durchaus widerstrebende Lesarten zu: Sie zelebrieren die Handlungsmacht ihrer unkonventionellen Figuren, erzählen aber auch von den gesellschaftlichen Ängsten und Kräften (häufig verkörpert durch Lehrer:innen, Polizisten, Eltern), die diese Frauen zu disziplinieren suchen.
Mit Filmen von Musidora sowie Germaine Dulacs La belle dame sans merci lädt das Programm zudem zur (Wieder-)Entdeckung zweier einflussreicher Frauen der französischen Filmkultur der 1920er-Jahre ein.


Einfluss der «nasty women»
Mit solchen historischen Querverbindungen möchte das Fokusthema dazu anregen, die jenseits des Schwerpunkts gezeigten Stummfilme auf die ihnen eingeschriebenen Gender-Konstellationen zu befragen. Wer die «nasty women» früher Filme bestaunt hat, wird kaum mehr über die auffällige Abwesenheit rebellischer Frauenfiguren in Stummfilm-Klassikern der 1920er- und 30er-Jahre hinwegschauen können – etwa in den sehenswerten, doch weitgehend männlich ausgestalteten Erzähluniversen von Josef von Sternbergs Underworld (USA 1927), Fritz Langs Agentenfilm Spione (D 1928) oder Alfred Hitchcocks The Ring (GB 1927). Auch Lubitschs Lady Windermere’s Fan (USA 1925) oder Stroheims The Merry Widow (USA 1925) erzählen zwar vordergründig keine Emanzipationsgeschichten, doch scheinen ihre weiblichen Hauptfiguren in Verve und Resilienz den «nasty women» des frühen Kinos zumindest verwandt. Ganz nah an der Perspektive der beiden weiblichen Hauptfiguren Fanny und Mary entfaltet sich wiederum Hindle Wakes (GB 1927): Was mit der Leichtigkeit eines Flirts im Vergnügungspark und mit taumelnden Tanzszenen beginnt, entwickelt sich zu einem dramatischen, doch eindringlichen Plädoyer für weibliche Selbstbestimmtheit, gerade auch im Sexuellen.
Kristina Köhler

Kristina Köhler arbeitet als Juniorprofessorin für Kunst- und Mediengeschichte der Bildmedien an der Universität zu Köln.