Marcello Mastroianni: Traumtänzer
«Und ich, Marcello, wann habe ich wirklich gelebt?» hat sich Marcello Mastroianni einmal gefragt, als er auf sein rastloses Künstlerleben zurückgeblickt hat und die vielen Figuren, denen er mit beeindruckenden Leinwandpräsenz Leben eingehaucht hat. Ob in leichten Komödien, existenziellen Dramen, mondänen Extravaganzen oder politischen Grotesken – keiner gab so berührend das Bild des italienischen Mannes in all seinen widersprüchlichen Facetten. Das Filmpodium nimmt Sie mit auf eine Reise durch die Leben, die Mastroianni für uns gespielt hat!
«Marcello, come here!» Das Echo von Sylvias Lockruf hallt bis heute durch die engen Gassen der römischen Innenstadt. Federico Fellinis Grossstadtsatire La dolce vita (1960) schrieb Filmgeschichte und stilisierte Marcello Mastroianni in der Rolle des verführerischen Flaneurs zwischen südländischem Spieltrieb und fragilem Intellekt zum damaligen Inbegriff moderner Männlichkeit. Gleichwohl können nur wenige Schauspieler von sich behaupten, sämtliche Klischees toxisch männlicher Potenz auf so mannigfaltige Art und Weise ans Messer geliefert zu haben wie Mastroianni. Das schillernde Bild, das zeitlebens auf ihn projiziert wurde, hat er stets reflektiert und voller Selbstironie untergraben: «Wann immer ich in mir einen Helden sah, musste ich lachen.» Die Magie seines Œuvres liegt bis heute genau in dieser Leichtigkeit, mit der sich Mastroianni nahbar wie feinfühlig immer wieder neu erfand und dabei stets derjenige blieb, zu dem ihn seine Liebe zum Kino gemacht hatte: ein rastlos Verspielter.
Vom naiven «bel giovane» zum verführerischen Gigolo
Marcello Mastroianni, der sich unter der Regie von Luchino Visconti bereits als talentierter Theaterschauspieler bewiesen hatte, wagte seine ersten ernsthaften Schritte in der Filmwelt mit Luciano Emmers Domenica d’agosto (1950). Der Ensemblefilm folgt in poetischer Beiläufigkeit dem sonntäglichen Treiben am Strand von Ostia und zeichnet ein Panorama der römischen Gesellschaft – vom spiessigen Kleinbürger über verliebte Teenager bis hin zum blasierten Grosskapitalisten. Einzig Mastroianni als fürsorglicher Verkehrspolizist Ercole bleibt in Rom, um für seine schwangere Freundin eine neue Unterkunft zu finden. Emmer, der mit Mastroianni fünf Filme drehte, besetzte ihn stets als den etwas Einfältigen und Gutmütigen, der am Ende die Rechnung für alles bezahlt – so auch in Il bigamo (1956): Der Handelsvertreter Mario De Santis führt ein geregeltes Leben mit Frau und Baby. Alles scheint in bester Ordnung, bis er aus heiterem Himmel der Bigamie beschuldigt wird. Mastroianni brilliert in der Rolle des vordergründig selbstsicheren Durchschnittsbürgers, der nicht weiss, wie ihm geschieht. Mit bemerkenswerter Natürlichkeit verkörpert er das gesamte Spektrum von Marios wachsender Verzweiflung und beweist dabei auch sein komödiantisches Gespür. Unter Emmers Regie, der wie kein anderer das Italien der 1950er-Jahre zwischen Provinzialität und sozialem Aufbruch einzufangen wusste, wurde Mastroianni zum Inbegriff folkloristischer Italianità. Was damals wie heute fesselt, ist die Art und Weise, wie Mastroianni diesen einfach gezeichneten Charakteren zwischen unschuldiger Schwärmerei und jugendlichem Leichtsinn authentisches Leben einhaucht. Der ersehnte Durchbruch zum Charakterdarsteller gelang ihm jedoch erst durch die Begegnung mit Federico Fellini.
Fellinis Produzent Dino de Laurentis hätte eigentlich einen kantigen Amerikaner wie Paul Newman für die Rolle des verführerischen Paparazzos in La dolce vita bevorzugt; daher ist es umso überraschender, dass ausgerechnet dieser verträumte «tipo pane fatto in casa» mit weichen Gesichtszügen auf Fellinis Beharren hin die Zusage bekam. Er brauche einen Unbekannten, sagte Fellini Mastroianni beim ersten Treffen wenig charmant ins Gesicht – der Rest ist Geschichte. Der grosse Erfolg von La dolce vita machte Mastroianni zum Star und verlieh ihm das Image des verführerischen Womanizers – ein Etikett, das an ihm haften blieb, obschon er es in seinem nächsten Film bereits eindrücklich durchbrach. Il bell’Antonio (1960) erzählt die Geschichte eines Schönlings, der dem süditalienischen Ideal von Maskulinität diametral entgegenstand: Als nach Antonios lang erwarteter Hochzeit durchsickert, dass er die Ehe aufgrund seiner Impotenz nicht vollziehen kann, wird seine «fehlende» Männlichkeit zum öffentlich diskutierten Skandal. Mastroianni spielt den anfänglich von allen bewunderten Antonio auffällig zurückhaltend, beinahe stoisch, ganz so, als wüsste dieser, dass letztlich nicht er selbst, sondern alle anderen über ihn und sein Schicksal entscheiden würden. Die beiden zeitlich so nahe aufeinanderfolgenden Filme La dolce vita und Il bell’Antonio verdeutlichen eindrucksvoll, wie konsequent Mastroianni dem auf ihn projizierten Image entgegenspielte.
Zwischen verspielter Selbstironie und zärtlicher Nostalgie
Mastroiannis Werk umfasst über 150 Filme und zeichnet sich durch seine schiere Produktivität und Experimentierfreude aus. Auffallend ist allerdings, wie er sich nach La dolce vita immer wieder für Rollen entschied, die keineswegs dem Idealbild potenter Männlichkeit entsprachen, sondern in denen er sich stets selbstironisch stereotypischen Rollenbilden entzog oder diese von innen her aushöhlte. So spielte er in Jacques Demys skurrilem L’événement le plus important … (1973) beispielsweise den ersten schwangeren Mann der Kinogeschichte. Mastroianni kehrte aber auch immer wieder zu Figuren zurück, die wir aus seinen früheren Filmen zu kennen scheinen, und interpretiert sie neu: Dem unsterblich verliebten Taxifahrer Oreste in Ettore Scolas Dramma della gelosia (1970) ist jegliche jugendliche Leichtigkeit abhandengekommen. Von Eifersucht und Herzeleid zerfressen, wird er im Liebesrennen um Adelaide schliesslich vom jungen Pizzaiolo Nello ausgestochen. Mastroianni widmet seiner einstigen Paraderolle des jungen Schwärmers mit einer grandiosen, leidend-exzentrischen Performance ein ironisches Abschiedslied.
Man könnte argumentieren, dass Mastroiannis Alterswerk mit dem midlifekriselnden Alter Ego von Federico Fellini in Otto è mezzo (1963) beginnt. Besonders im Erzählkino von Ettore Scola, mit dem er nach Dramma della gelosia noch neun Filme drehen sollte, offenbarte sich aber nochmals ein neues Kapitel in Mastroiannis schauspielerischer Vielseitigkeit. Während Fellini den alternden Mastroianni in La città delle donne (1980) eskapistisch in surreale (Alb-)Traumwelten abtauchen liess, inszenierte Scola feinfühlig und realistisch die Einsamkeit des einfachen Träumers. In Che ora è (1989) begegnen wir Mastroianni in der Rolle eines sechzigjährigen Rechtsanwalts, der seinen erwachsenen Sohn besucht und mit diesem einen Nachmittag verbringt. Zwischen wieder aufbrechenden Streitereien vergangener Jahre und arbiträren Gesprächen zeichnet der Film das subtile Porträt zweier Generationen, die sich eigentlich nichts mehr zu sagen haben. Der vom Alter gezeichnete Mastroianni verkörpert die Vaterfigur durchzogen von zärtlicher Nostalgie und fragiler Melancholie; Eigenschaften, die sein Schauspiel bis zum Schluss auszeichneten. Doch war sie, diese zärtliche Fragilität, nicht schon immer unterschwellig da gewesen? Und scheint es umgekehrt gar in Mastroiannis letzten Filmen nicht stets noch so, als wäre keine Zeit verstrichen, als würden sich hinter gealterten Augen noch immer der jugendliche Schalk und die verspielte, gutmütige Leichtigkeit seiner Figuren aus den ersten Jahren verbergen?
Marc Frei
Marc Frei studierte Filmwissenschaft und Geschichte an der Universität Zürich und blieb dem Kino seither eng verbunden.