Terence Davies: Briefe an die Welt
Terence Davies, Filmemacher und Poet, hinterlässt uns nach seinem unerwarteten Tod ein schmales, aber betörendes filmisches Œuvre. Seine frühen Werke sind autobiografisch und beschwören oft in eindringlichem Schwarzweiss das Liverpool und die Arbeiterquartiere seiner Kindheit herauf: Armut und Gewalt, aber auch die erlösende Kraft gemeinsam gesungener Lieder. Momente von transzendenter Schönheit und zerreissendem Schmerz. Später verschreibt er sich kunstvollen und sensiblen Literaturverfilmungen, erzählt von Menschen, die um sich ringen und ihren Platz in der Gesellschaft nie ganz finden können. Stets erkennbar sind der an der dänischen Malerei geschulte Blick und eine Bildsprache von exquisiter Eleganz. Wir verbeugen uns vor Terence Davies mit einer Retrospektive.
«This is my letter to the world, that never wrote to me», so fängt das Gedicht Emily Dickinsons an, mit dem Terence Davies seinen Film A Quiet Passion (2016) beschliesst. Es sind Zeilen aus dem Neuengland des 19. Jahrhunderts, und doch drücken sie für Davies eine sehr persönliche Wahrheit aus. Die Last des eigenen Lebens, das Gefühl, die Welt nur zu beobachten, nicht aber an ihr teilzuhaben, trägt Davies durch all seine Filme, auch und gerade wenn Figuren im Zentrum stehen, deren Lebenswelt zunächst weit entfernt scheint von der des Regisseurs.
Davies wächst als jüngstes von zehn Kindern in einer streng katholischen Liverpooler Arbeiterfamilie auf. Seine drei noch in Schwarzweiss gedrehten Kurzfilme Children (1976), Madonna and Child (1980) und Death and Transfiguration (1983), die später zur Terence Davies Trilogy zusammengefasst werden, sind filmische Erinnerungen an diese Kindheit, erschienen im Rückblick selbst dem Filmemacher arg düster. The Long Day Closes (1992) hingegen beschwört ein kurzes Intermezzo des Glücks: Der autoritäre Vater ist tot, der Ernst des Lebens hat noch nicht begonnen, und die Blicke, die der kleine Bud aus dem Fenster in die Welt hinauswirft, sind voller Verheissungen. Nur der Filmtitel und die Wolken, die in der Schlussszene den Himmel verdunkeln, wissen etwas von einer Zukunft, die nichts Unbeschwertes mehr kennt. Manchmal ist es fast unerträglich, sich an etwas zu erinnern, vor allem, wenn man glücklich war, wie Davies einmal gesagt hat.
Erinnern ist bei Davies eine sinnliche Erfahrung, mehr als um Ereignisse und damit um eine filmische Handlung geht es um Stimmungen, nicht zuletzt um Stimmen und um Musik. Klassische Stücke oder das gemeinsame Singen in Davies’ frühem Meisterwerk Distant Voices, Still Lives (1988) – eine weitere impressionistische Beschwörung eines Familienlebens im Liverpool der 1950er-Jahre, in der Davies auch das Aufwachsen mit einem gewalttätigen Vater und dessen frühen Tod verarbeitet – prägen die Atmosphäre seiner Filme, aber auch Popsongs der jeweiligen Zeit. Etwa in jener wundervoll poetischen Sequenz in The Long Day Closes, in der die Kamera zu Debbie Reynolds’ Schnulze «Tammy» wie magisch von hoch oben über eine Kinovorführung, einen Gottesdienst und schliesslich eine Schulstunde schwebt.
The Long Day Closes wird Davies’ letztes explizit autobiografisches Werk. Das Material für die Filme, die er zwischen 2005 und 2015 dreht, liefern mehr oder weniger bekannte Klassiker: Romane aus den Jahren 1905 (Edith Whartons «The House of Mirth»), 1932 (Lewis Grassic Gibbons «Sunset Song») und 1952 (John Kennedy Tooles «The Neon Bible») sowie ein Theaterstück aus den 1950ern (Terence Rattigans «The Deep Blue Sea»). Auch in diesen Vorlagen findet Davies das eigene Leben. Die Männer sind häufig an- oder abwesende Tyrannen – Variationen von Pete Postlethwaites psychotischem Familienvater in Distant Voices, Still Lives –, die Erzählungen selbst kreisen um weibliche Figuren, die mit ihren Prinzipien der Aufrichtigkeit an einer Gesellschaft scheitern, die nach gänzlich anderen Prinzipien funktioniert.
Ob Gena Rowlands als gescheiterte Sängerin Mae in The Neon Bible (1995), Gillian Anderson als tragische High-Society-Anwärterin Lily in The House of Mirth (2000), Rachel Weisz als untreue Ehefrau Hester in The Deep Blue Sea (2011) oder Agyness Deyn als alles aushaltende Farmerin Chris in Sunset Song (2015): In all diesen auch schauspielerisch sehr besonderen Frauenporträts drückt sich nicht zuletzt die Erfahrung eines Mannes aus, dem die eigene Homosexualität nie zur Quelle einer selbstbewussten Identität wurde, sondern schambehaftete Bürde geblieben ist, dem gesellschaftlich subventionierte Lebenswege verschlossen waren, der aber auch in queeren Gegenkulturen keine Heimat fand. In seinem letzten Film Benediction (2021), wie A Quiet Passion die Biografie eines Dichters, widmete Davies sich erstmals direkt dem Leben eines schwulen Mannes auf der Suche nach Erlösung.
Siegfried Sassoon wird dabei von zwei Darstellern gespielt: als junger Veteran des Ersten Weltkriegs von Jack Lowden, als verbitterter Alter, der verzweifelt zum Katholizismus konvertiert, von Peter Capaldi. Zwischen diesen Zeitebenen wechselt Benediction so elegant wie unbekümmert, eher eigenwillig assoziativ als dramaturgisch nachvollziehbar. Schon seit den Kurzfilmen ist die Modellierung von Zeit der Kern der Davies’schen Ästhetik. Manchmal verschwinden Jahre in einer Kamerabewegung, und in mehreren Filmen bedient sich Davies einer digitalen Morphtechnik, in der die Gesichter der Darsteller:innen vor unseren Augen in Sekunden altern. Ein bisschen ungelenk, irgendwie unzeitgemäss erscheint dieses technische Mittel in Zeiten aufwendiger CGI-Multiversen – und doch so passend für den Schock der Vergänglichkeit, der zentral ist für Davies’ Filme: dass aus jedem noch so jugendlichen Gesicht mal eine faltige Entsprechung entstehen wird, und das manchmal, ehe man sichs versieht.
«Du lebst nicht für den Moment, du lebst für die Ewigkeit», das wird Siegfried Sassoon in Benediction am Ende seines Lebens vom eigenen Sohn an den Kopf geworfen, und dieser Satz ist nicht die schlechteste Annäherung an dieses Kino. Für den Moment leben, das ist bei Davies ein Ding der Unmöglichkeit, weil der Moment längst von seinem Vergehen weiss. In einer wunderschönen Sequenz in A Quiet Passion sitzt die junge Emily Dickinson am Tisch und sieht ihrer Familie mit einem wohligen Lächeln beim Alltag zu. In einem 360-Grad-Schwenk fährt Florian Hoffmeisters Kamera über die einzelnen Gesichter im nur schwach beleuchteten Raum, kommt am Ende wieder bei Dickinson an, die nun sichtlich bewegt, fast erschüttert ist. Als ob sie während der Kamerafahrt gewahr wurde, dass all dies irgendwann nicht mehr sein wird.
Weil alles von Zeit durchzogen ist, sind Schönheit und Schmerz, Frohsinn und Trauer, Begehren und Bitterkeit zwei Seiten derselben Medaille, niemand hat diese Einsicht filmisch so ausdrücken können wie Terence Davies. Das macht die Schwere dieses Kinos aus, aber auch seine Wärme und seine grosse Poesie. Im letzten Herbst ist Davies im Alter von 77 Jahren nach kurzer Krankheit verstorben. Wer einen Eindruck nicht nur von seinem Ernst, sondern auch von seiner Begeisterungsfähigkeit und seinem scharfen Humor bekommen möchte, sollte Of Time and the City (2008) nicht verpassen, eine Auftragsarbeit fürs Fernsehen über das Liverpool seiner Kindheit. Im sanften Bass seiner Stimme im Voice-over, mal mit Schalk im Nacken, mal mit bebendem Pathos, lässt sich der Dialogwitz seiner Filme ebenso wiederfinden wie ihr berührender Ernst.
«This is my letter to the world, that never wrote to me.» Wie die grosse Dichterin des 19. Jahrhunderts wurde auch Davies zu Lebzeiten viel zu wenig Anerkennung zuteil; erst in den letzten Jahren ist sein Werk verstärkt beachtet worden, gab es Preise, Würdigungen, Werkschauen und Bücher. Der Filmkritiker Michael Koresky, der bereits 2014 eine Monografie über Davies verfasste, beschrieb ihn in einem Nachruf als einen Regisseur «am Rande des Vergessens». Zum Glück ist es nicht zu spät, ihn noch in unsere Mitte zu holen, wieder und wieder seine Briefe an die Welt zu lesen, und das am besten im Kino.
Till Kadritzke
Till Kadritzke ist Kulturwissenschaftler und freier Filmjournalist. Er ist Teil der Redaktion des Onlineportals critic.de.