Radu Jude: Wahnsinn der Wirklichkeit
Radu Jude hat das rumänische Kino auf den Kopf gestellt. Mit Filmen voller Wucht, die Konventionen hinterfragen und zeigen, was oft unsichtbar bleibt. Sie ziehen hinein in den tosenden Strassenlärm Bukarests, in die Familienkonflikte, die Lebenswelten von Arbeiter:innen und Marginalisierten, die vom unbändigen Kapitalismus geprägt sind. Und in die Schrecken der Geschichte, den verdrängten Rassismus und Antisemitismus einer ganzen Nation. Jude experimentiert virtuos mit Genres und Bildern, kein Format scheint vor seiner Kreativität sicher: vom Academy-Bildformat des klassischen Hollywood-Tonfilms über Fotomontagen bis zu Tik-Tok Videos ist alles möglich. Mal grob und mal subtil, fast immer lustig und stets mit einem genauen Blick für das, was es zu zeigen gilt. Furchtloses Kino in stetiger Bewegung, ein Sprung in die absurde, schrecklich-schöne Wirklichkeit - mit Do Not Expect Too Much from the End of the World als Schweizer Kino-Premiere und in Anwesenheit von Radu Jude.
«In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist.» (Stanisław Jerzy Lec)
In Bad Luck Banging or Loony Porn (2021) liefert Radu Jude eine mögliche Definition seines Kinos. Er beruft sich dabei auf die Mythologie, genauer die Erzählung von Perseus und dem Kopf der Medusa. Dem berühmten Heros gelingt es, die schreckliche Gorgonenschwester zu enthaupten, weil er ihrem tödlichen Blick ausweicht und seine Widersacherin stattdessen in der Spiegelung auf dem Schild der Athene betrachtet. Dieses sich spiegelnde Schild, so ein Ansatz des rumänischen Filmemachers, sei das Kino. Eine Möglichkeit, dem Grauen der Wirklichkeit in dessen Abbildern zu begegnen.
Hinein also in die widersprüchliche, absurde, herrliche, schreckliche Wirklichkeit! Hinein in den tosenden Strassenlärm Bukarests, den verdrängten Rassismus und Antisemitismus einer ganzen Nation, hinein in das befreiende Herumalbern und das ständige Fluchen der Menschen, hinein in die dauernde Ausbeutung und in ein sexistisch geprägtes Ungleichgewicht. Mit Jude hinein in das, was sonst kaum wer zeigt. Vielleicht lässt sich der herrschende Horror mit dem Kino bändigen.
Tatsächlich sind die in beträchtlicher Geschwindigkeit entstehenden Filme von Jude von einer ähnlichen Furchtlosigkeit geprägt wie der mit dem Schild bewaffnete Perseus. In weniger als zwanzig Jahren hat der 46-jährige nicht nur das rumänische Kino auf den Kopf gestellt. Vom radikalen Realismusdenken des Neuen Rumänischen Kinos der 2000er-Jahre mit langen Einstellungen und genauen Beobachtungen alltäglicher Handlungen, die in seinen frühen Filmen wie The Happiest Girl in the World (2009) noch sehr präsent sind, öffnete sich der Filmemacher zunehmend für ein freieres, verspielteres und dezidiert politischeres Kino.
Vornehmlich interessiert er sich dabei für das, was man einmal Proletariat nannte. Die Arbeiter:innen und Marginalisierten bevölkern seine Filme. So auch in seinem jüngsten – Do Not Expect Too Much from the End of the World (2023) –, in dem ein ganzes Geflecht von Ausbeutungsmechanismen einer irgendwo aus der Distanz operierenden österreichischen Firma sichtbar wird: Von Mittelspersonen in Rumänien über Menschen, die für diese arbeiten, bis hinunter zu Arbeiter:innen, die sogar noch für Unfälle, die sie aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen erlitten, bezahlen müssen – sie werden alle ausgebeutet. Moderner Kapitalismus «in a nutshell»!
Nie fern ist dabei die Bildproduktion selbst, die sich mit falschen Bildern, Werbung, Slogans oder den sozialen Medien in diese Ausbeutungskette eingliedert. Man könnte sagen, dass Jude nicht nur die Lügen einer Gesellschaft entlarvt, sondern auch die der Bilder, die diese produziert. Seine Filme allerdings suchen bewusst nach Gegenbildern. In dem als Balkan-Western titulierten Aferim! (2015) bedient er die im rumänischen Kino unter dem ehemaligen Diktator Ceaușescu (1918–1989) durchaus beliebte Schaulust an historischer Folklore, nur um sie schonungslos mit dem im 19. Jahrhundert und bis heute anhaltenden Rassismus gegen die Sinti und Roma zu konterkarieren. In viele andere Filme implementiert er historische Filmaufnahmen, um hinter die bereits gemachten Bilder zu blicken.
Von manchen Filmschaffenden sagt man, sie seien die Chronisten ihres jeweiligen Landes. Das könnte man von Jude auch behaupten, allerdings muss er erst all das umschreiben, was bereits verfälschend festgehalten wurde. Er ist ein Rotstift im Buch der rumänischen Geschichte. Seine Geschichtsschreibung kombiniert das Didaktische mit dem Dokumentarischen. Mal wird klar ausgesprochen, was Sache ist, mal taucht nur ein Detail am Rand des Bildes auf, das den Blick auf alles verändern könnte.
Insbesondere die fehlende Aufarbeitung der antisemitischen Vergangenheit seines Landes greift Jude wiederholt auf und an. In Filmen wie The Dead Nation (2017), Aferim!, I Do Not Care If We Go Down in History as Barbarians (2018), The Marshal’s Two Executions (2018) oder Scarred Hearts (2016) legt er schonungslos den Finger in die zu lang ignorierten Wunden eines sich als Opfer von Nazismus und Stalinismus erklärenden Selbstverständnisses. Dabei dreht Jude weder sozialrealistische Mitleidsdramen noch holt er zu grossen Metaphern aus. Ähnlich wie in den 1960er- und 70er-Jahren bei Dušan Makavejev bedeutet politisches Kino für ihn, der Welt nicht abhandenzukommen. Statt von oben herab kommt sein Blick aus dem Auge des Sturms.
So kommt dieses Kino nie in den Verdacht, einfach Kunst sein zu wollen, und bewahrt sich stattdessen seine Dringlichkeit. Das gilt für die schneller produzierten kurzen Arbeiten wie The Potemkinists (2022) genauso wie für aufwendige historische Spielfilme wie Scarred Hearts. Jude sucht in seinen Werken nach einer filmischen Entsprechung für die Aphorismen und Notizen von Schriftsteller:innen oder die Skizzen von Maler:innen. Er überwindet die selbst auferlegte Schwerfälligkeit des Mediums, indem er dessen Produktionsmechanismen hinterfragt und Konventionen umschifft. Seine Filme kombinieren das Anekdotische mit den geschichtlichen Verwerfungen der letzten hundertfünfzig Jahre. Mal malt Judes Stammkameramann Marius Panduru perfekte Bilder, mal werden sie nur so hingerotzt. Kein Format bleibt bestehen, und es überrascht auch nicht, wenn mitten im Film eine Fotomontage eingebaut wird. Nichts ist sicher, alles bleibt lebendig.
Die Dialoge in den Filmen gleichen vielfach einem Zitatfeuerwerk. Weniger geht es Jude darum, über die Sprache den Plot weiterzutragen, als darum, über Referenzen ein Milieu oder Charaktere einzufangen. Deshalb ist es auch nicht wichtig, alle Anspielungen zu verstehen. Gleichzeitig dienen die Zitate als Brecht’sches Element. Die Arbeiter:innen bei Jude sind belesen, die Unterdrückten mucken auf. Das ist ein altbekannter Kniff revolutionären Diskurses, aber bei Jude wird nichts mit künstlicher Bedeutung angereichert, alles fliesst ineinander, das Niederträchtige und das Würdevolle, das Banale und das Erhabene.
Statt sich in den spätestens seit Jean-Luc Godard oder Pier Paolo Pasolini vorgegebenen Mustern eines politischen Kinos auszubreiten, sucht Jude obsessiv nach den Möglichkeiten filmischer Intervention in einer sich unablässig verändernden Welt. So werden Covid-Masken, Smartphones oder wie jüngst in Do Not Expect Too Much from the End of the World ein von Hauptdarstellerin Ilinca Manolache kreierter Tiktok-Avatar in die Handlungen verflochten. Wenn man an eine Fotomontage von Strassenkreuzen für Verstorbene auf einer Schnellstrasse, Bilder aus Lucian Bratus Film Angela merge mai departe (Taxifahrer Angela) (1981) oder einen Auftritt des deutschen Kultregisseurs Uwe Boll im selben Film denkt, wähnt man sich fast im überfordernden Bilderstrudel der sozialen Medien. Jude aber versucht, im Zuviel der Welt etwas Produktives zu finden. Sein Modus ist der der ständigen Bewegung. Folgerichtig bewegen sich auch seine Protagonisten unablässig, in Autos, Bussen, Kutschen, auf E-Scootern, zu Pferd oder eben surfend durchs Internet. Wenn sie ans Bett gefesselt sind, wie der an Tuberkulose erkrankte Emanuel in Scarred Hearts, ist das die Hölle.
Bei aller thematischen Komplexität zeichnet die Filme doch eine grosse Leichtigkeit und Komik aus. Geschult an der rumänischen Form des Vaudeville eines Ion Luca Caragiale (1852–1912) ähneln seine Filme irrsinnigen Aneinanderreihungen von Szenen, in denen die Menschen dort gefilmt werden, wo sie am absurdesten wirken. Das Ergebnis erinnert oft an eine Farce, der aber nur die Wirklichkeit zugrunde liegt. Das ist es wieder, dieses so belastete Wort «Wirklichkeit», das durch Jude noch einmal neuen Schwung bekommt. Vielleicht liegt das daran, dass für ihn alles zur Wirklichkeit zählt: Tiktok-Videos, Internetpornos oder der Blick aufs Meer. Alles kann das Kino betrachten, wenn es nur mit dem richtigen Spiegel bewaffnet ist. Vielleicht aber liegt es auch daran, dass Jude selbst die behauptete Wirklichkeit samt ihrem tödlichen Blick enthauptet.
Patrick Holzapfel
Patrick Holzapfel arbeitet literarisch, kuratorisch und journalistisch. Er ist Herausgeber des Online- und Printmagazins «Jugend ohne Film». 2024 erscheint sein Debütroman, ausserdem ist er Gewinner des Open-Mike-Wettbewerbs für junge Literatur 2022. 2016 Siegfried-Kracauer-Stipendiat des Verbands der deutschen Filmkritik, 2022 nominiert für den Siegfried-Kracauer-Preis für die Beste Filmkritik, 2022 Startstipendiat Literatur des Bundeskanzleramts Österreich.